Brandenburg: Zukunftsträume auf dem „Hof der Hoffnung“
Auf dem Gut Neuhof versuchen junge Männer ihre Drogen- oder Alkoholsucht zu überwinden – Malte Ludwig hat es geschafft
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Nauen - Das einzig Vertraute war der Geruch nach frisch gekochtem Milchreis - die Lieblingsspeise, die ihm seine Mutter gekocht hatte, als er noch ein Kind war. Der Geruch drang aus der Küche des Gemeinschaftshauses bis auf den Sandweg, der zum Gut Neuhof führt. Dort stand Malte Ludwig, 27 Jahre alt, ausgezehrt und dürr - der 1,98 Meter große Mann wog nur noch 64 Kilo. Einen Tag zuvor war Malte auf dem Boden seiner Berliner Wohnung aufgewacht, nachdem er sich mit Tabletten und Alkohol zugedröhnt hatte. Ungefähr 20 Stunden muss er so dagelegen haben. Am 4. August 2003 wusste er es nicht mehr. Er wusste nur noch, dass er das nächste Mal vielleicht nicht überleben wird. Hier, rund zehn Kilometer entfernt von der Zivilisation des nächsten Dorfes, auf dem Bauernhof bei Nauen wollte er damals seine Drogensucht überwinden, in der Gemeinschaft für suchtkranke Männer und Jugendliche. „Hof der Hoffnung“ nennt sich das katholische Projekt. Oder auch „Fazenda da Esperanza“, denn die Idee der Bauernhöfe für den Entzug stammt aus Brasilien, wo es über 20 solcher Einrichtungen gibt.
Auf den Weiden des deutschen Hofes laufen Ziegen und Schafe herum, in den Gärten wuchsen Kartoffeln und Gemüse. Und weiter hinten auf den Feldern drehen sich Windradflügel auf schmalen Pfeilern, die in den Himmel ragen, der hier tiefer zu hängen scheint als in Berlin, weil keine hohen Häuser ihn verdecken. Es gibt nur das Gemeinschaftshaus, das Wohnheim, die Kapelle in der alten Backstube, ein flaches Bürogebäude und die Ställe für die Hühner, Gänse und Schweine.
Als Malte Ludwig im Sommer 2003 hier ankam, lagen 15 Jahre Drogensucht hinter ihm, eine Entzugs-Therapie in einem staatlichen Krankenhaus, nach der er zwar auf Kokain und Crack verzichtete, aber zu Tabletten und Alkohol griff.
Mehr als vier Jahre sind seitdem vergangen. Malte ist nun 31, ein kräftiger, großer Mann, er ist clean. Den Sandweg gibt es nicht mehr, Stattdessen führt jetzt eine Pflasterstraße zum Gut Neuhof, Malte hat mitgeholfen, sie zu bauen. Nun repariert er gerade die Tür zum Schweinestall. Der 17-jährige Ronny (Name von der Redaktion geändert), mit dem Malte zurzeit sein Vierbettzimmer teilt, tigert unruhig neben ihm auf und ab. Erst seit einer Woche ist der Jugendliche auf dem Hof, das Jugendamt hat ihn hergeschickt. Doch Hoffnung scheint er nicht zu empfinden. Er sucht den Sozialarbeiter, er will hier weg.
„Ich kenne das“, sagte Malte Ludwig. „So ging es mir auch.“ Alles war fremd: Die Weite, die Stille, die Menschen, die ihm freundlich lächelnd begegneten und „Willkommen“ sagten. Sie behagten ihm nicht. Genauso wenig wie das Tischgebet, das alle murmelten, bevor es damals den Milchreis zum gemeinsamen Mittagessen gab. Das Schlimmste aber sind die Verbote: Keine Drogen, kein Alkohol, keine Zigaretten, kein Sex. Darum wohnen in Neuhof nur Männer. Bis zum Frauenhof der Fazenda ist es einige Kilometer weit. Um 22 Uhr ist Bettruhe, um sieben wird aufgestanden. Wer ein Bett in dem Hof bezieht, muss am Eingang Geld, EC-Karten, Schlüssel und Papiere abgeben.
Heute sitzt Malte zwischen 21 Männern aus ganz Deutschland an einer langen Tafel im hallenartigen Gemeinschaftssaal. Der Jüngste der Ex-Junkies und Alkoholiker ist 16, der Älteste 63. Malte Ludwig spricht das Gebet ganz selbstverständlich mit und bekreuzigt sich, bevor er sich erhebt, um sich einen Teller mit Gemüsesuppe zu holen. Nach seinem Pflichtjahr in Neuhof hat er auf einer katholischen Schule in Paderborn sein Fachabitur nachgeholt und ist nun freiwillig zurückgekehrt nach Nauen, um sein nächstes Lebensjahr dem Hof zu widmen. Er kümmert sich um die Tiere. „Die Sauen haben gerade Junge bekommen“, sagt er.
Die Arbeit in der Gemeinschaft soll den Gestrauchelten einen Wert geben, das Selbstbewusstsein, etwas Eigenes zu schaffen, erklärt Fazenda-Sozialarbeiter Gregor Henke. Er ist der einzige Sozialarbeiter auf dem Hof und einer der wenigen Angestellten. Neben zwei Sekretärinnen, einer Köchin, einem Metzgermeister und einem Hausmeister arbeiten noch zwei Pfarrer dort. Es gibt keine Therapeuten, keine Ärzte. Denn hier sollen die Kranken keine Hilfe von oben erhalten, sondern „Hilfe zur Selbsthilfe“. „Hier sollen sie sich auf sich selbst besinnen, Beziehungen neu erlernen und so ein Fundament schaffen für das Leben nach der Fazenda“, sagt Henke. Durch die Arbeit lernten die Bewohner, dass die Gemeinschaft sie braucht – egal ob sie in der Wäscherei, in der Backstube, im Stall oder in der Metzgerei anpackten. Die brasilianischen Vorbild-Fazendas könnten sogar ohne fremde Unterstützung leben, sagt Henke: „Eine Fazenda dort zum Beispiel betreibt eine Tiefkühlpizzafabrik.“ So etwas sei im bürokratischen Deutschland schwieriger, sagt Henke. Zwar vermietet sein Hoffnungshof Schafe, verkauft Freilandeier, Fleisch, Wurst und bald im eigenen Café auch Kuchen. Davon leben könnten die Bewohner aber nicht. Und so sei die mittlerweile neun Jahre alte Einrichtung weiterhin auf Spenden angewiesen. Die kommen meist aus Kirchenkreisen, vom Bonifaziuswerk etwa oder von der St. Martin-Gesellschaft. Aber auch die Bauern aus der Umgebung helfen aus, wenn mal ein Trecker oder guter Rat fehlt.
Gregor Henke unterhält sich gerade mit einem freiwilligen Helfer aus Brasilien, als Ronny mit stampfenden Schritten auf ihn zu steuert. Ronnys Augen in dem pickligen Teenagergesicht blicken starr und voller Hass: „Ich will mein Portemonaie, ich hau ab, das ist hier nichts für mich“, er schreit fast. Henke antwortet ruhig, er solle ins Büro gehen, er könne seine Sachen haben. „Die Bewohner sind freiwillig hier, wir können sie nicht zwangsweise hier halten.“ Und außerdem hat Ronny bisher jeden Tag behauptet, dass er nun endgültig geht. „Aber noch ist er hier“, sagt Henke und lächelt. Der 29-jährige Mann mit den rosigen Wangen trägt Jeans und Fleece-Jacke, lächelt viel und geht geschickt mit Worten um. Seine Diplomarbeit hat er über die Rolle des Glaubens in der Suchthilfe geschrieben.
Der Glaube bestimmt neben der Arbeit auch den Alltag der Fazenda. Drei Mal pro Woche werden in der kleinen Kapelle Messen gehalten. Jeden Morgen beten die Bewohner nach dem Frühstück zusammen den Rosenkranz. „Zuerst finden das die Neuen eigenartig“, erklärt Malte Ludwig. Aber früher oder später würden alle mitbeten.
Auch Malte ist inzwischen katholisch. Allein in diesem Monat würden sich noch drei weitere Hofbewohner taufen lassen. Wie viele Suchtkranke wurden denn in Neuhof schon missioniert? Gregor Henke scheint die Frage nicht zu mögen, er windet sich. „Wir sind ja keine Taufmaschinerie“, sagt er. Er wisse auch gar nicht, wie viele Menschen auf dem Hof zum Glauben gefunden hätten. Aber darauf komme es nicht an. Es sei egal, ob die Menschen, die hier bei Nauen landen, Christen, Juden, Muslime oder Atheisten seien. Wichtig sei, dass die Gemeinschaft ihnen Halt gibt, dass sie es schaffen, ohne Drogen zu leben.
Malte Ludwig schafft das schon fast fünf Jahre, er hat sogar Zukunftsträume. Er will nächstes Jahr nach Mosambik ziehen, um dort zu helfen, den ersten afrikanischen Hof der Hoffnung aufzubauen. Während er das erzählt, fährt der gelbe Gemeinschaftsbus an ihm vorbei. Neben dem Fahrer sitzt Ronny auf dem Weg zum Nauener Bahnhof.
Juliane Wedemeyer
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