Landeshauptstadt: ... kommt Dir Lärm wie Stille vor
Vor 100 Jahren erfand Maximilian Negwer Ohropax: Der Apotheker ist auf dem Bornstedter Friedhof begraben
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Nur wenige Potsdamer dürften einen so ruhigen Arbeitsplatz haben wie Andrea Rolbieski. An diesem Vormittag steht sie in Gummistiefeln auf dem Friedhof in Bornstedt und harkt Laub. Maximilian Negwer? Die Friedhofsgärtnerin weiß gleich Bescheid: Apotheker, sein Grab befindet sich am nördlichen Rand des neuen Teils. „Abschnitt fünf“, sagt Rolbieski und lächelt. „Wenn ich richtig informiert bin, war das der Erfinder von Ohropax“, fügt sie hinzu.
Was der Ohropax-Erfinder in Potsdam zu suchen hat? Ein Anruf bei Michael Negwer, dem Enkel und Chef des Unternehmens, das heute in Wehrheim im Taunus – 20 Kilometer nördlich von Frankfurt am Main – sitzt: Ja, bestätigt er, Ohropax wurde 34 Jahre lang in Potsdam produziert. Sein Großvater, der Firmengründer, starb 70-jährig in der Havelstadt.
Erst um die Jahrhundertwende war er aus Schlesien nach Berlin gekommen. Dort machte Negwer ab 1907 die Sehnsucht der Menschen nach Ruhe zur klingelnden Geschäftsidee. Sein Pharmazieunternehmen verkauft zwar auch andere Produkte, erzählt der Enkel: „Puder, Parfums, Cremes“. Aber die Lärmschutz-Stöpsel waren „immer Hauptprodukt“: Sie bestehen aus Baumwollflies, das mit einer Wachsmischung getränkt wird, erklärt Michael Negwer. Noch bis 1990 werden die Baumwoll-Wachs-Platten per Hand in kleine Portionen gerissen und zu Kugeln gerollt – seit 17 Jahren übernimmt das eine Maschine.
Gutes Gespür für Marketing beweist der Firmengründer mit der Einführung der Stöpsel bei der Armee während des ersten Weltkriegs. Seit 1917 standen die Wachskugeln den Soldaten zur Verfügung. Und das, obwohl sie den Frieden – lateinisch „Pax“ – im Namen tragen. „Das Produkt wurde auf diese Weise erstmals weiten Bevölkerungsschichten bekannt“, heißt es auf der Internet-Seite der Firma. „Gegen die Schallwirkung des Kanonendonners, für Verwundete und Kranke und Sanitätspersonal, beim Schwimmen gegen Eindringen des Wasser, für Luftschiff, Flugzeug und Automobilbegleitung. Für Artillerie, Kriegsschiffe, im Biwak und Eisenbahnverkehr“, ist auf die Dosen gedruckt. Damals wie heute werden die rosafarbenen Wachsstöpsel im Sechserpack verkauft.
1924 entschließt sich Maximilian Negwer, nach Potsdam umzusiedeln. Fortan werden die Wachskügelchen in der Jägerstraße 40 produziert: 14 Mitarbeiter hat Negwer zu der Zeit. Die Räumlichkeiten sind gemietet, weiß der Enkel. Über die Beweggründe für den Umzug kann er nur spekulieren: Die Firma hatte sich vergrößert und brauchte mehr Platz – vielleicht war der Mietpreis hier günstiger. Außerdem hat der Unternehmer mittlerweile Familie: Maximilian Negwer heiratete die 22 Jahre jüngere Erna Kaufke und wird in seinen Fünfzigern noch fünffacher Vater.
Ein Foto aus dem Jahr 1928 zeigt die Familie beim Sonntagsspaziergang vor dem Chinesischen Teehaus im Park Sanssouci: Die Söhne sind in adrette Matrosenanzüge gekleidet. Unweit vom Park haben die Negwers damals gewohnt. Edeltraut Volkmann-Block vom Potsdam Museum findet die Adresse im Adressbuch: In der Victoriastraße 57 – der heutigen Geschwister-Scholl-Straße – wohnt die Familie zur Miete.
Das Unternehmen hat da gerade seine erste „Blütezeit“, wie der Enkel erklärt: In den 1920er Jahren startete Negwer eine Werbeoffensive: „Hast Du Ohropax im Ohr, kommt Dir Lärm wie Stille vor“, steht zum Beispiel auf einem Werbeaufsteller. Mit solchen Sprüchen platziert Negwer den Firmennamen im öffentlichen Bewusstsein. Bis heute wird er synonym mit dem Produkt verwendet – auch wenn Patente längst abgelaufen sind.
1929 schließlich ist genügend Geld da für etwas Eigenes: Maximilian Negwer erwirbt eine Villa in der Marienstraße 34, der heutigen Gregor-Mendel-Straße. Das Haus gehört heute wieder der Familie: Einer der Erben ist Enkel Hubertus Negwer. Der Berliner Architekt lässt die Villa momentan sanieren: „Wahrscheinlich zur privaten Nutzung“, sagt er.
Anders ist es mit der Mendelstraße 5, schräg gegenüber: Dieses Haus kauft Maximilian Negwer 1934. Bis in die 1950er Jahre ist das die Produktionsstätte. Vorbesitzer waren Alfred, Albert und Levy Anders, sagt Volkmann-Block vom Potsdam Museum: Jüdische Kaufleute aus Wien. Die dürften vom Kaufpreis allerdings nur einen Bruchteil gesehen haben, glaubt die Historikerin. Das Gebäude ging nach der Wende an die Jewish Claims Conference, die jüdische Entschädigungsansprüche vertritt.
Während des zweiten Weltkrieges sterben der Firmengründer – und drei seiner Söhne. Einer von ihnen – Dieter – liegt in Bornstedt begraben. Der Grabstein der Negwers ist groß, aber schlicht. In der Mitte des Granitquaders ein einfaches Kreuz: Die Namen und Lebensdaten des Apothekers und seines jung gestorbenen Sohnes stehen auf der rechten Seite – links ist viel Platz. Denn die Witwe verlässt die Stadt 1958 in Richtung Westen.
Nach dem Krieg kommt die Produktion „fast zum Erliegen“, erklärt Enkel Michael Negwer: „Ernährung war wichtiger.“ Außerdem herrscht Rohstoffmangel. Während die Witwe die Firmengeschicke in Potsdam lenkt, läuft in Frankfurt am Main ein zweiter Produktionsstandort an. Betreiber dort ist Sohn Wolfgang, der Vater des heutigen Firmenchefs. Ende 1958 wird die Potsdamer Filiale verstaatlicht, erzählt Negwer. Die Zeitungen dieses Jahres berichten fast wöchentlich über die „Anträge auf staatliche Beteiligung“, die die Wirtschaftsunternehmen scheinbar freiwillig stellen. Erna Negwer, die bereits 1945 ihren Wohnsitz in der Mendelstraße 1934 aufgeben musste, zieht nach der Übernahme jedenfalls zu ihrem Sohn.
Etwa zwei Jahre lang läuft der Betrieb in Potsdam ohne die Negwers weiter, ehe er ins thüringische Rudolstadt verlegt wird. Heute verkauft das Unternehmen in Wehrheim 30 Millionen Wachskugeln pro Jahr, sagt Michael Negwer. Mit 45 Mitarbeitern ist die Firma – verglichen mit dem allgegenwärtigen Namen – immer noch relativ klein.
„Gefunden?“, erkundigt sich Andrea Rolbieski bei den neugierigen Besuchern. Sie selbst braucht die Ohrstöpsel ja wohl nicht? Und ob, erklärt sie und lacht: „Mein Mann schnarcht.“
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