Von Juliane Wedemeyer: 10 000 Verfahren: Sozialgericht überlastet
Nirgendwo sonst in Brandenburg gehen so viele Klagen gegen Hartz IV- Bescheide ein wie in Potsdam
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Hilfebedürftige aus Potsdam und dem Umland sind offenbar besonders oft unzufrieden mit dem Amt. Allein in diesem Jahr gingen bisher 5550 Klagen gegen Hartz IV-Bescheide am Potsdamer Sozialgericht ein. Bis zum Jahresende werden es 7500 sein, prognostiziert Gerichtsdirektor Johannes Graf von Pfeil. Das sind mehr als an jedem anderem Sozialgericht des Landes. Gestritten wird um Mietzuschüsse, Warmwasserpauschalen, Kinderzuschläge oder angebliche Untätigkeit der Behörden. In Potsdam haben die Hartz IV-Empfänger laut Graf von Pfeil in 60 Prozent aller Fälle mit ihren Klagen zumindest einen teilweisen Erfolg gehabt.
Derzeit stapeln sich in der Landeshauptstadt über die Jahre angehäufte Akten zu mehr als 9300 Klagen. Im Dezember wird sich die Zahl der Verfahren auf rund 10 000 erhöht haben, sagte Gerichtsdirektor Graf von Pfeil gestern auf PNN-Anfrage. Und das, obwohl in Potsdam nur rund 9000 Haushalte auf Hartz IV angewiesen sind. Zum Vergleich: An allen drei übrigen Sozialgerichten – in Cottbus, Frankfurt Oder und Neuruppin – haben sich insgesamt 13 455 Klagefälle angesammelt.
In Relation zur Bevölkerung habe Potsdam einen genauso hohen Bestand wie das Berliner Sozialgericht, das das größte Deutschlands ist. Dort haben sich rund 30 506 unbearbeitete Verfahren angesammelt. Die Berliner Sozialrichter hatten bereits im August die Öffentlichkeit darauf hingewiesen, dass sie der Flut nicht mehr Herr werden.
„Wir leiden an der Masse der Fälle“, sagte Graf von Pfeil gestern in Potsdam, wo das Landessozialgericht interessierte Bürger zum Tag der Offenen Tür eingeladen hatte. „Wir schieben einen ganzen Berg vor uns her.“ Und jedes Jahr vergrößere sich dieser Berg um weitere 1500 Fälle. Mit seinen 18,5 Richterstellen schaffe er nicht, den Bestand tatsächlich abzubauen. Wegen der vielen Eilverfahren betrage die durchschnittliche Verfahrenszeit zwar nur acht Monate. Aber es käme vor, dass Bürger zwei Jahre darauf warten müssten, dass ihre Gerichtsverhandlung beginnt.
Dies sei sehr problematisch, da es in diesen Fällen ja um die Grundsicherung der Betroffenen gehe, sagte Graf von Pfeil. Problematisch könnte es auch für das Gericht werden, erklärte der Gerichtsdirektor: Laut einem Urteil des Europäischen Gerichts für Menschenrechte verstoße eine zu lange Verfahrensdauer gegen die Menschenwürde. Spätestens, wenn die Betroffenen drei Jahre warten müssen, könnten sie Schadensersatz verlangen. „Wir kommen langsam in diesen Bereich“, sagte Graf von Pfeil. Um das zu verhindern, bräuchte er mehr Mitarbeiter, neben Richtern auch Verwaltungsangestellte, die die Akten verwalten.
Seit 2005 die Bundesregierung mit der Sozialgesetzreform das Arbeitslosengeld II eingeführt hat, habe sich die Zahl der Klagen am Potsdamer Sozialgericht mehr als verdoppelt. Ebenfalls im Jahr 2005 gründete sich unter der Regie der Stadt Potsdam die Paga (Potsdamer Arbeitsgemeinschaft zur Grundsicherung Arbeitssuchender), die die Verteilung des Arbeitslosengelds II und anderer staatlicher Hilfen koordiniert. Warum die Bescheide der Paga offenbar besonders häufig Anlass zur Klage geben, konnte Paga-Chef Frank Thomann gestern nicht erklären. Er war für die PNN nicht erreichbar. Schon früher hatte Thomann allerdings erklärt, dass die Potsdamer besonders klagefreudig seien. Das läge auch an der guten Infrastruktur, das Sozialgericht in der Rubensstraße sei gut zu erreichen. Sozialgerichtsdirektor Graf von Pfeil sieht das ähnlich. Zudem seien die Kläger hier sehr gut informiert. Allerdings sieht er auch noch Mängel im Gesetz. Es müsse präzisiert werden. Noch bietet es auf viele Rechtsfragen gar keine Antwort.
Für den Tag der Offenen Tür am Landessozialgericht interessierten sich trotzdem nur wenige Potsdamer Bürger. Der Großteil der knapp 20 Besucher waren Vertreter der brandenburgischen Hartz IV-Behörden.
Juliane Wedemeyer
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