Von Almut Andreae: Ab in den Osten
Von West nach Ost: Das politische Buch „Zuflucht DDR“ von Bernd Stöver über ein Tabuthema deutscher Zeitgeschichte
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Insgesamt 550 000 Westdeutsche gingen zwischen 1949 und 1989 freiwillig über die deutsch-deutsche Grenze. Was sie in den Arbeiter- und Bauernstaat trieb, war nur in seltenen Fällen die Utopie eines besseren politischen Systems. Der Drang in die DDR resultierte vor allem aus einem profanen Leistungsdruck: 60 Prozent der Menschen, die dem goldenen Westen den Rücken kehrten, verbanden dies mit der Hoffnung auf mehr Lebenssicherheit. Die Aussicht auf einen garantierten Arbeitsplatz, eine Wohnung oder auch ein Hochschulstudium rangierten bei den meisten an oberster Stelle. Weitere Motive für den Grenzübertritt waren die Flucht vor den Konsequenzen hoher Verschuldung und strafrechtlicher Verfolgung.
Bernd Stöver, Historiker und Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam, förderte unlängst in der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung erstaunliche Ergebnisse über ein lange tabuisiertes Thema deutscher Zeitgeschichte zutage. In seiner Publikation „Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler“ befasste sich der Historiker mit der wenig bekannte Migration von Aussiedlern aus der damaligen BRD in die DDR. Anders als im Falle Wolf Biermanns, der aus politischer Überzeugung heraus seiner bundesrepublikanischen Heimat den Rücken kehrte, war die Übersiedlung von Ost nach West stärker als bisher angenommen meist unpolitisch motiviert.
Die aufwendige Recherche nach den Beweggründen für die Übersiedlung von West nach Ost, die sich hinter der imposanten Gesamtzahl von mehr als einer halben Million Menschen verbirgt, führte Bernd Stöver über viele Jahre in die einschlägigen Archive. Die ermittelten statistischen Werte stützen sich unter anderem auf die Befragungsprotokolle, die beim Grenzübertritt sowohl auf west- als auch auf ostdeutscher Seite entstanden. Demnach ergibt sich für Stöver folgendes Bild: Der Staatenwechsel wurde in den meisten Fällen aus der Hoffnung heraus in Kauf genommen, dass es sich im anderen Deutschland einfacher leben ließ. In der Ära Ulbricht gingen bis zum Bau der Mauer etwa 500 000 Bundesbürger diesen Weg. Durch die Mauer reduzierte sich die Zahl der Einwanderer in die DDR auf 1000 bis 2000 Menschen pro Jahr schlagartig.
Den Sog in die DDR hatte in nicht unwesentlichem Maße die DDR-Führungsspitze durch gezielte Propaganda lanciert. Damals wurde auf der Argumentationsschiene gesteigerter sozialer Fürsorge und mehr Lebenssicherheit für den Wechsel von West nach Ost geworben. Die in die DDR übersiedelnden Bundesbürger wurden in Auffanglagern isoliert. Die Eingliederung in die DDR-Gesellschaft hatte danach möglichst unauffällig zu erfolgen. Die Westler wurden von der DDR-Bevölkerung mit gewissem Argwohn beäugt. In Verkennung ihrer meist sehr privaten Motive traute man den Übersiedlern aus Furcht vor einer Bedrohung der bestehenden Sicherheit häufig nicht ganz über den Weg.
Bernd Stöver hat die anonyme Zahl der halben Millionen Übersiedler in seinem Buch am Beispiel von neun Fällen exemplarisch untersucht. Durch die Art seiner Auswahl (Otto John als erster westdeutscher Verfassungsschutzchef, Spione wie Günter Guillaume, Offiziere, Politiker und RAF-Terroristinnen) lenkt Stöver das Augenmerk auf einen durchweg prominenten Personenkreis, der in seiner heterogenen Zusammensetzung vielerlei Register zieht. Die Fokussierung auf gerade diese Biographien steigert die Brisanz seiner freilich verdienstvollen Forschungsarbeit und damit die mediale Aufmerksamkeit.
Das Faktum der West-Ost-Migration lässt sich Stövers Ausführungen zufolge einerseits einfach als gewöhnliche Migrationsbewegung betrachten. Gut nachvollziehbar wird sie immer dann, wenn Menschen sich von der Auswanderung in ein anderes Land, in einen anderen Staat eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erhofften. Lothar Bisky, um ein weiteres prominentes Beispiel anzuführen, erfüllte sich mit der Übersiedlung in die DDR laut Stöver als junger Mann den Wunsch des von ihm angestrebten Studienplatzes.
Die eigentliche Brisanz der lange verschwiegenen Einwanderungswelle von Bundesbürgern in die DDR, insbesondere in den fünfziger Jahren, entsteht vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, der den Grenzübertritten schnell eine primär politische Lesart und Konnotation gab. Schließlich beschnitt die Mauer die Bevölkerungsbewegung zwischen den beiden Teilen Deutschlands radikal.
Die Rückmeldungen aus den Reihen der Zuhörer in der Diskussionsrunde mit Bernd Stöver machen einmal mehr deutlich, dass in der historischen Aufarbeitung des geteilten Deutschlands bis zum heutigen Tag viele weiße Flecken bestehen. „Zuflucht DDR“ erscheint da wie die Spitze des Eisbergs jener in die Hunderttausende gehenden Einzelschicksale und Geschichten, die vielfach geprägt sind von Desillusionierung, zerstörten Hoffnungen, falschen Erwartungen in Ost und West. Gleichzeitig verhieß manch einem, der in der DDR untertauchte, der endgültige Seitenwechsel den rettenden Ausweg in eine neue Existenz.
Bernd Stöver, Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler. 384 S., Verlag C.H.Beck, 24,90 Euro.
Almut Andreae
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