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Landeshauptstadt: Aber der Trabbi, der rollt

Der 9. November in Drewitz und die Erinnerungen von Hans-Dieter Behrendt

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Der 9. November in Drewitz und die Erinnerungen von Hans-Dieter Behrendt Von Radfahrern war die Rede. Radfahrer, die zwischen Ost- und Westberlin hin- und herfuhren. Was Hans-Dieter Behrendt von den Ereignissen am 9. November erfuhr, das klang alles ein wenig seltsam. Am Tag zuvor war er nach Leningrad, dem heutigen Petrograd geflogen. Dass sich im fernen Berlin am Abend des 9. Novembers die Ereignisse förmlich überschlugen, davon erfuhr er kaum. Irgendetwas war los in der Deutschen Demokratischen Republik, doch was, das konnte auch die Dolmetscherin nicht klären. Sie sprach nur von diesen Radfahrern, die angeblich zwischen der geteilten Stadt hin- und her radelten. Ganz unwichtig war es für Behrendt nicht, was an der innerdeutschen Grenze geschah. Als Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee war er seit 1965 verantwortlich für den Arbeitsbereich Passkontrolle an den Grenzübergangsstellen im Bezirk Potsdam. Aber die jüngsten Entwicklungen, die über Ungarn Flüchtenden, die Montagsdemonstrationen, die angespannte Lage im Land, Behrendt und viele seiner Kollegen ahnten, dass etwas geschehen würde. Doch vom eigenwilligen Verlauf der Geschichte an diesem Tag und den darauffolgenden Wochen waren sie alle überrascht. Während Behrendt in Leningrad über die Radfahrer nachdachte, stand den Grenzern an der Grenzübergangsstelle in Drewitz eine lange und aufregende Nacht bevor. Gegen 19.30 Uhr rollte das erste Auto aus Richtung DDR heran: Vier Jugendliche in einem Trabant, die an diesem 9. November als erste zum Grenzübergang nach Drewitz kamen und von den Grenzern wegen „Nichtvorlage einer Reiseberechtigung“ zurückgewiesen wurden. Da war seit Günther Schabowskis Mitteilung im Fernsehen über die Öffnung der Grenze nicht einmal eine halbe Stunde vergangen. Nach Dienstvorschrift hätten die Grenzsoldaten diese Vier wegen „Verstoßes gegen die Grenzordnung“ festnehmen und der Volkspolizei übergeben müssen. Doch Zurückhaltung wurde geübt, geschuldet auch der Unsicherheit darüber, was hier eigentlich vor sich ging, denn immer mehr Autos stauten sich am Grenzübergang Drewitz. Noch hielten sich die Uniformierten an ihre Befehle und wiesen auch die weiteren Ankömmlinge zurück. Anfangs glaubten sie, dass hier etwas falsch verstanden wurde oder Fehlinformationen im Umlauf waren. Es lag kein Befehl vor, der sie über die Äußerungen Schabowskis informiert hatte und ihnen entsprechende Weisungen gab. Doch wie an so vielen Grenzübergängen Richtung Westberlin wuchs die Zahl derer, die sich von der geöffneten Grenze selbst überzeugen wollten, sehr schnell. Bis 22 Uhr zählten die Grenzsoldaten in Drewitz 50 Autos, dazu zahlreiche Passanten. Die Telefonate mit den Dienststellen in Berlin und Potsdam brachten keine Ergebnisse oder Befehle für die Grenzsoldaten. Die Lage wurde aber immer komplizierter, denn der Transitverkehr aus Westberlin staute sich, weil die Trabants und Wartburgs den Grenzübergang versperrten. Die anfänglichen Proteste und Beschimpfungen waren abgeklungen, Grenzer und Bürger kamen allmählich ins Gespräch. Irgendwann begann man gemeinsam Lieder zu singen: „Hoch auf dem gelben Wagen“, der Refrain verändert in „Aber der Trabbi, der rollt“. Behrendt kam erst am 11. November wieder aus Leningrad zurück. Beim Landeanflug auf das abendliche Schönefeld sah er die Straßen voller Lichter. Autoschlangen, die alle Richtung Westberlin zogen. Auf dem Heimweg nach Potsdam sah er dann links und rechts der Straße Auto an Auto stehen. „Viele hatten ihren Pkw einfach im Graben abgestellt und waren zu Fuß weitergegangen“, erinnert sich der 74-Jährige heute. Am nächsten Tag arbeitete Behrendt wieder in seiner Dienststelle. Der geplante Urlaub war vorbei, denn die offiziellen Grenzübergänge Drewitz, Stolpe und Staaken im Raum Potsdam waren dem Ansturm nicht mehr gewachsen. Es kam vor, dass spontan „illegale“ Grenzübergänge geschaffen wurden. Dem galt es entgegenzuwirken. Neue „offizielle“ Grenzübergänge sollten unter anderem in Babelsberg, Teltow, Kleinmachnow und Falkensee entstehen. Was für die neuen Übergänge fehlte, stellte der Senat von Westberlin zur Verfügung. Privatfirmen planierten die Bereiche, wo vor kurzem noch die grauen Mauersegmente standen, Container mit Heizung, Toiletten und Telefonanschlüssen wurden geliefert. An der Grenzübergangsstelle Drewitz durften am Morgen des 10. Novembers, gegen 0.30 Uhr, die ersten DDR-Bürger in den Westen reisen. Ein Stempel im Personalausweis, genau über das Passbild, galt als Reisegenehmigung. Nicht jeder wusste, dass dieser Stempel als Ausbürgerung verstanden wurde, eine Rückkehr in die DDR später verweigert werden sollte. Doch dieser „dienstlich-geordnete“ Grenzübertritt war nicht mehr lange möglich. Ob mit dem Fahrrad oder Kinderwagen, die Masse war kaum noch zu halten. Viele Potsdamer, die zuerst zur Glienicker Brücke gegangen waren, die aber wegen ihrer Sonderstellung vorerst nicht als Grenzübergang freigegeben wurde, hatten sich nach Drewitz aufgemacht. In den kommenden Tagen beobachtete Behrendt immer wieder, dass viele DDR-Bürger mit ihren Autos aus allen Teilen des Landes nach Berlin gereist kamen. Obwohl die Grenze zur Bundesrepublik oft näher war, wollten viele von ihnen über die Glienicker Brücke, diesem geschichtsträchtigen Ort, in den Westen Berlins einreisen. Am Abend des 10. Novembers hatte man sich dazu entschlossen, den Ort, an dem im Kalten Krieg regelmäßig Spione ausgetauscht wurden, für den Reiseverkehr freizugeben. Für Behrendt waren die folgenden November- und Dezembertage eine arbeitsreiche Zeit. Oft war er an den Grenzübergängen und beobachtete den Reiseverkehr. Busse aus Westberlin fuhren bis zum Bassinplatz und brachten von dort zahllose Menschen zum Bahnhof Wannsee, wo sie mit Zügen weiterfuhren. Erst mit dem 30. Juni 1990 wurden die Kontrollen an der Grenze eingestellt. Einen Monat später ging Hans-Dietrich Behrendt in den Vorruhestand. Im Laufe des 10. Novembers musste die Autobahnmeisterei immer wieder Richtung der Grenzübergangsstelle Drewitz fahren. Es galt „herrenloses Gut“ einzusammeln. Auf dem Weg nach Westberlin, ob nur zu einem Besuch oder für immer, wurde manches am Fahrbahnrand zurückgelassen. Neben Kinderwagen gehörten auch Fahrräder dazu. Zwischen Ost- und Westberlin hin- und her zu radeln, war für manchen dann doch nicht so einfach.

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