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Homepage: Abfall war gestern
Das 16. Leibniz-Kolleg fragt nach Nachhaltigkeit
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892 Quadratkilometer. 45 Kilometer vom östlichsten bis zum westlichsten Teil, 38 Kilometer vom nördlichsten bis zum südlichsten Zipfel. Das ist die Fläche, die die Stadt Berlin einnimmt. Jeder Einzelne der 3,5 Millionen Einwohner verbraucht täglich Nahrungsmittel und Strom. Er kleidet sich, fährt mit dem Auto oder dem Fahrrad zur Arbeit, liest Zeitung und schaut Fernsehen. Brot, Hose, Zeitung, Fernseher – jedes dieser Güter besitzt einen ökologischen Fußabdruck. Dieser gibt an, wie viel Fläche für die Produktion und Entsorgung des jeweiligen Produktes tatsächlich gebraucht wird.
Der ökologische Fußabdruck der Stadt Berlin geht weit über die Stadtgrenzen hinaus. Jeder Berliner verbraucht durchschnittlich etwa 4,4 Hektar Land – für den Anbau von Baumwolle, für die Förderung von Rohstoffen für Handy und Notebook, für den Bau von Straßen und Häusern. In der Summe verbrauchen die Berliner etwa 15 Millionen Hektar Land – eine Fläche, die so groß ist wie die fünf östlichen Bundesländer und Baden-Württemberg zusammen. Doch geht es um den ökologischen Fußabdruck, sind wir alle Berliner. Jeder der anderen 78 Millionen Deutschen verbraucht ebenfalls eine Fläche von 4,4 Hektar für seinen Lebensstil. Die Erde könnte langfristig nicht mehr als 1,7 Milliarden von uns ertragen.
Das Beispiel des ökologischen Fußabdrucks zeigt: Unser derzeitiger Lebensstil ist alles andere als vorausschauend. Doch wie wollen wir in absehbarer Zeit leben? Wie können wir unseren Lebensstandard erhalten oder sogar noch steigern, ohne dabei unseren Planeten weiter aufzuheizen, ohne mehr Ressourcen zu verbrauchen als nachhaltig ist und ohne die Lebensgrundlage weiterer Pflanzen- und Tierarten zu zerstören?
Mit diesen Fragen befassen sich Wissenschaftler aus Potsdam, Berlin, Zürich und dem niederländischen Wageningen auf dem diesjährigen 16. Leibniz-Kolleg, das heute an der Universität Potsdam beginnt. „Learning from Nature: Towards a Circular Economy“, so der Titel der zweitägigen Vortragsreihe, die den Dialog zwischen Wissenschaftlern und Publikum anregen soll. Im Hauptvortrag geht Louise Vet, Professorin für Evolutionsökologie an der Universität Wageningen und Direktorin des Niederländischen Instituts für Ökologie, darauf ein, wie Ökotechnologien unsere Wirtschaft nachhaltiger gestalten können (10. Mai).
Tatsächlich hat die Natur einiges zu bieten, das für das künftige menschliche Wirtschaften wegweisend sein könnte. „Die Natur kennt keinen Abfall“, erläutert die Biologin Alice Boit von der Universität Potsdam. „Sie recycelt ständig, sowohl Nährstoffe als auch Material. Unsere Wirtschaft tut das zu einem großen Teil nicht“, so Boit. Ursula Gaedke, Professorin für Ökologie und Ökosystemmodellierung, stimmt zu: „Der Stoffstrom ist heute überwiegend linear: Aus Rohstoffen wird ein Produkt hergestellt, dieses wird benutzt und anschließend weggeworfen“, so Gaedke. Nun komme es darauf an, das Prinzip der biologisch geschlossenen Kreisläufe zu übertragen und technisch geschlossene Kreisläufe zu entwickeln. Denn unsere Ressourcen – Erdöl, Edelmetalle oder seltene Erden – sind endlich. Und so mancher Müllhaufen entpuppt sich letzten Endes als Goldgrube: In einer Tonne Handyschrott stecken 240 Gramm Gold, 2500 Gramm Silber, 92 Gramm Palladium und etliche Kilogramm Kupfer und Kobalt.
Auch in der Landwirtschaft gewinnen geschlossene Stoffkreisläufe zunehmend an Bedeutung. Phosphor ist einer der wichtigsten Pflanzennährstoffe. Etwa 300 000 Tonnen Phosphat-Mineraldünger bringen deutsche Landwirte jedes Jahr auf ihren Feldern aus. Doch auch die natürlichen Phosphor-Vorkommen sind begrenzt. „Bei den gegenwärtigen Abbauprozessen können wir damit rechnen, dass die Vorkommen in etwa 100 Jahren erschöpft sein werden“, erklärt Dr. Jürgen Kern vom Leibniz-Institut für Agrartechnik Potsdam-Bornim e.V. (ATB). In einem kleinen Folienbeutel zeigt der Wissenschaftler den Stoff, der helfen könnte, die Ressourcen zu schonen.
Kleine viereckige, sandfarbene Kristalle – Struvit wird aus Klärschlamm gewonnen und enthält etwa sechs Prozent Phosphor. Unter dem Namen „Berliner Pflanze“ vertreiben die Berliner Wasserbetriebe in ihrem Kundenzentrum den mineralischen Dünger, der aus den Abwässern von rund einer Million Einwohnern Berlins in der Kläranlage Waßmannsdorf gewonnen wird. Durch die Belüftung des Faulschlamms mit Kohlendioxid und der Zufuhr von Magnesiumchlorid fällt das kristalline, geruchlose Struvit aus. Die Belastung mit Schwermetallen wie Cadmium ist sogar geringer als bei natürlichen Phosphorquellen. Derzeit wird in Feldversuchen auf besonders nährstoffarmen Böden in Brandenburg getestet, ob sich der Stoff auch in der Landwirtschaft bewährt. Erste Laborversuche mit Nutzpflanzen stimmen optimistisch: Mit dem Dünger aus Kärschlamm wachsen sie gut. Das Potential ist hoch: „Wenn wir dieses Verfahren für ganz Deutschland anwenden würden, könnten wir etwa zehn Prozent des derzeit über Mineraldünger eingebrachten Phosphors sparen“, so Jürgen Kern. Somit wächst die Tomatenpflanze auf dem Balkon in Charlottenhof mit einem Nährstoff, der aus kommunalem Abwasser zurückgewonnen wurde. Die Früchte dieser selbst gezogenen Balkon-Tomate haben übrigens einen unschlagbar kleinen ökologischen Fußabdruck. Heike Kampe
Das Leibniz-Kolleg im Internet: www.leibniz-kollegpotsdam.de
Heike Kampe
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