zum Hauptinhalt
Herr des Sauerteigs. Selbst nachdem Josef Gniosdorsz die Potsdamer Traditionsbäckerei Braune 1989 an seinen Sohn übergeben hatte, kümmerte sich der Senior noch regelmäßig um den „Sauer“, wie der Teig in der Zunft genannt wird. 

© privat

Erinnerungen an eine Potsdamer Persönlichkeit: Abschied von Bäckermeister Josef Gniosdorz

Im Alter von 97 Jahren ist Josef Gniosdorz, der langjährige Chef der Bäckerei Braune Potsdam, gestorben. Er wird an diesem Mittwoch auf dem Neuen Friedhof beigesetzt.

Von Carsten Holm

Potsdam - Ein langer Weg führt durch die verwinkelten Räume der Bäckerei Braune an der Friedrich-Ebert-Straße 101. Er beginnt im Verkaufsraum, wo die Zeit stehengeblieben zu sein scheint, die Einrichtung stammt aus dem Jahr 1930 und könnte eine vorzügliche Filmkulisse darstellen. Es geht vorbei an kleinen und größeren Backöfen, an Maschinen aus der Vorkriegszeit und modernen, computergesteuerten. Ganz am Ende greift der 64 Jahre alte Werner Gniosdorz, seit Sommer 1989 Inhaber des Traditionsunternehmens, nach einer riesigen Schüssel, er will zum zweiten Mal an diesem Tag „den Sauer anfrischen”. Der „Sauer”: das ist das Kürzel seiner Zunft für einen Sauerteig. Der Ort ist historisch, immerhin gehen die Wurzeln der Bäckerei auf das Jahr 1734 zurück. Die Schüssel ist es auch: in ihr kneten die Braunes seit 1930 Teig.

Altbekannte Straßenfront. Nicht nur die Fassade mit dem einprägsamen Schriftzug, auch das Ladeninterieur atmet städtische Bäckereigeschichte. 
Altbekannte Straßenfront. Nicht nur die Fassade mit dem einprägsamen Schriftzug, auch das Ladeninterieur atmet städtische Bäckereigeschichte. 

©  Andreas Klaer

Respektvoll und ein bisschen andächtig hat Gniosdorz zuvor ein Foto seines am 28. Dezember im Alter von 97 Jahren verstorbenen Vaters Josef Gniosdorz gezeigt. Es zeigt ihn zufrieden lächelnd, er legt seine Hände an dieselbe große Schüssel. „Auch als er die Bäckerei 1989 an mich übergeben hatte, kümmerte er sich immer noch um den Sauerteig.” Am 13. Januar 2021 wird Josef Gniosdorz auf dem Neuen Friedhof beigesetzt.

[Was ist los in Potsdam und Brandenburg? Die Potsdamer Neuesten Nachrichten informieren Sie direkt aus der Landeshauptstadt. Mit dem neuen Newsletter Potsdam HEUTE sind Sie besonders nah dran. Hier geht's zur kostenlosen Bestellung.]

Im St. Franziskus Seniorenpflegeheim an der Kiepenheuerallee ist das lange, bewegte Leben eines Mannes zu Ende gegangen, den es durch die Wirren des Zweiten Weltkriegs nach Potsdam verschlagen hatte. Vier Jahrzehnte half er mit, das große Ansehen der Traditionsbäckerei zu erhalten. Als der Senior vor fünf Jahren in das Heim einzog, leitete er sein jahrzehntelanges Abonnement der PNN dorthin um, seit längerer Zeit aber machte ihm die Demenz schwer zu schaffen.

Im Kessel von Stalingrad verwundet

Wie viele Frauen und Männer seiner Generation kehrte Gniosdorz aus dem Krieg gezeichnet zurück. In der heute polnischen Ortschaft Trachy (Althammer), nahe Gliwice (Gleiwitz) geboren, lernte er dort Bäcker. 1942 zog ihn die Wehrmacht zum Infanterieregiment 9 in Potsdam ein, bald ging es von der Havel an die Ostfront. Als Soldat der 6. Armee wurde er verwundet aus dem Kessel von Stalingrad ausgeflogen.

Über das, was er erlebt und durchlitten hatte, sprach Gniosdorz kaum. Die Familie wusste zwar, dass er den Krieg mit drei Verwundungen nur knapp überlebt hatte. Sie wusste auch, dass er 1945 bei Szczecin in russische Gefangenschaft geraten war und erst 1948 frei kam. Auch wenn sein Vater meistens darüber schwieg, spürte Werner Gniosdorz, „wie schlecht es ihm gegangen war. Sein Leben wurde beherrscht von furchtbarem Hunger, Tag für Tag”.

Mit einem Trick aus Kriegsgefangenschaft entkommen

Der nächste Schicksalsschlag kam in Gefangenschaft. Der 22 Jahre junge Soldat erfuhr, dass er seine Heimat verloren hatte. Die einst preußische Provinz Schlesien sollte nach dem Krieg Polen zugeschlagen werden, Kriegsgefangene, die von dort stammten, wurden nicht freigelassen. Der pfiffige Gniosdorz aber überlistete die russischen Lageraufseher mit einem Trick: Er hatte als Soldat in Potsdam während des Ausgangs eine Frau kennengelernt, gab deren Anschrift als seine Heimatadresse an – und durfte sich prompt auf den Weg nach Brandenburg machen.

Werner Gniosdorz mutmaßt heute, dass es „wohl auch an seinen furchtbaren Erinnerungen an die Gefangenschaft lag”, dass sein Vater immer in Distanz zu dem neuen, sozialistischen deutschen Staat blieb. Doch er fasste Fuß. Er stellte sich in der Bäckerei Braune vor. Bäckermeister Gustav Braune hatte das Geschäft 1853 gekauft, sein Sohn Wilhelm Senior übernahm es 1893. 1920 folgte ihm Wilhelm Braune Junior – und ließ dort prompt die ersten Stromleitungen verlegen.

Bäckerei-Team. Fast 50 Jahre hatte Josef Gniosdorz gemeinsam mit seiner Frau Käthe die „Bäckerei Braune“, hier mit dem Team aus dem Jahr 1951, geführt.
Bäckerei-Team. Fast 50 Jahre hatte Josef Gniosdorz gemeinsam mit seiner Frau Käthe die „Bäckerei Braune“, hier mit dem Team aus dem Jahr 1951, geführt.

© Privat

Der Bäcker Josef Gniosdorz bewährte sich und heiratete Käthe Braune, die Tochter des Chefs. 1968 übergab Braune den Betrieb seinem Schwiegersohn, im Sommer 1989, kurz vor der Wende, kam dessen Sohn Werner auf die Kommandobrücke. Der weiß, welchen Anteil sein Vater daran hat, dass das Gourmetmagazin „Der Feinschmecker” die Bäckerei kürzlich unter 10.491 Meisterbetrieben in Deutschland zu den 500 besten zählte – und zum Landesbesten in Brandenburg erkor.

Warnung an den Sohn

Es gab gute Zeiten. Im Sommer brach die Familie mit dem kleinen Motorboot „Helios III” auf, das am Kiewitt in der Brandenburger Vorstadt lag, es wurde Kurs auf die Müritz oder in Richtung Neuruppin genommen. Der Vater half dem Sohn, Klippen des sogenannten Realsozialismus zu umschiffen. Werner Gniosdorz war 14 Jahre alt, als er sich der Jugendweihe verweigern wollte, sie war als Alternative zur Konfirmation als staatssozialistisches Fest propagiert worden. Der Vater warnte den Sohn: ohne die Weihe kannst du vielleicht kein Abitur machen oder bekommst Schwierigkeiten bei der Berufsausbildung. Der Sohn hielt das für übertrieben. Es kam zum Kompromiss: Werner Gniosdorz nahm allein an der Jugendweihe teil, die Familie blieb fern. „Gehorsamsübung hat mein Vater das genannt”, sagt er heute.

Heirat. Josef Gniosdorz heiratete die gebürtige Käthe Braune.
Heirat. Josef Gniosdorz heiratete die gebürtige Käthe Braune.

© Privat

Der Vater konnte es eben

Auf den Rat seines Vaters studierte er und wurde Ingenieur für die Backwarenindustrie. Nun wusste er viel darüber, was etwa in einem Sauerteig mikrobiologisch geschieht. Hat sein Vater davon profitiert? „Dafür hatte er überhaupt kein Ohr”, sagt der Sohn lächelnd. Dessen Rat war: „Wenn der Sauer nicht richtig kommt, musst du ihn wärmer gießen und weicher halten.” Hatte der Vater damit Recht? „Ja. Warum, wusste er aber nicht.” Hätte ihm dieses Wissen genützt? „Nein. Er konnte es ja”. Er habe viel von seinem Vater gelernt, erzählt Werner Gniosdorz, „das Backen von Brot und Blätterteig hat er mir beigebracht. Blätterteig war sein Ein und Alles.”

Das Ansehen Josef Gniosdorz war groß. Die heute 90 Jahre alte Brunhilde Hanke, zu DDR-Zeiten 23 Jahre Potsdamer Oberbürgermeisterin, spricht von einem „außerordentlich anerkannten, beliebten Bäckermeister”, Wolfgang Hering, der heute 81 Jahre alte, langjährige Pfarrer der Nikolaigemeinde, zollt Gniosdorz Respekt dafür, dass er als schlesischer Katholik das Engagement seines Sohns Werner in der Jungen Gemeinde tolerierte.

Führt Tradition weiter. Sohn Werner Gniosdorz übernahm von seinem Vater Josef 1989 die bekannte Privatbäckerei in der Potsdamer Innenstadt.
Führt Tradition weiter. Sohn Werner Gniosdorz übernahm von seinem Vater Josef 1989 die bekannte Privatbäckerei in der Potsdamer Innenstadt.

© Andreas Klaer

Auch Ralf Spillner, 65 Jahre alt und lange Jahre Inhaber des Gartenbaubetriebs an der Heinrich-Mann-Allee, schätzte ihn: „Wir wussten ja, dass man aufpassen musste, was man so sagt in unserem Land des Lächelns.” Mit Gniosdorz „konnte ich immer völlig offen reden, nicht mit gedämpfter Zunge, wie es hieß.” Die beiden Männer seien sich darin einig gewesen, „dass man in der DDR aufrecht leben konnte, auch wenn man nicht den sozialistischen Klassenstandpunkt hatte”.

"...und ich hänge mich an der Vorderfront am Fenster auf"

Der war gefragt, als der Rat der Stadt Potsdam die Bäckerei 1972 verstaatlichen wollte. Bei einer Betriebsversammlung ging es „hoch her”, erzählt Werner Gniosdorz. Er durfte, erst 16 Jahre alt, nicht daran teilnehmen, lauschte aber an der Tür: „Mein Opa hat klar gesagt: Hier backen nur mein Schwiegersohn und ich. Wenn man uns verstaatlicht, vernageln wir unser Haus mit Brettern, und ich hänge mich an der Vorderfront am Fenster auf.”

Ob die kleine Konterrevolution in der Backstube ein Umdenken der SED-Lenker bewirkt hat, weiß Gniosdorz nicht: „Unsere Entschlossenheit wird sicher dazu beigetragen haben”, glaubt er.

Mit der Mangelwirtschaft arrangiert

Immer wieder neu musste sich die Bäckerei mit den Defiziten der Mangelwirtschaft arrangieren: Langes Warten auf Handwerker, Lieferengpässe für Kohle. „Mein Vater hat beim Rat der Stadt angerufen, wenn wir keine Kohle mehr hatten. Dann kamen am nächsten Morgen zwei Zentner, die aber nur für zwei Tage reichten”, erzählt Gniosdorz.

Josef Gniosdorz freute sich über die Wende. „Na endlich”, sagte er zu seinem Sohn. Die neue Zeit war schwierig. Die Umsätze fielen auf die Hälfte, doch dann profitierte auch die Traditionsbäckerei vom Einzug der Marktwirtschaft.

Die Zukunft der Bäckerei allerdings ist noch nicht gesichert. Eine seiner beiden Töchter arbeitet in der Computerbranche, die andere ist nach ihrem Biologiestudium Konditormeisterin geworden. „Aber ich weiß nicht, was wird, sie hat sich noch nicht erklärt. Ich arbeite erstmal noch ein paar Jahre weiter.”

Zur Startseite