zum Hauptinhalt
Rollentausch. Wer oben liegt, steht schon lange nicht mehr fest.

© ddp

Von Jan Kixmüller: Alles anders

Am Einstein Forum machte man sich Gedanken über das heutige Verhältnis von Sexualität und Moral

Stand:

Doch, es hat sich einiges geändert in unseren Betten. Seit den frühen 80er Jahren ist in punkto Sexualität alles anders als vorher. Waren die 50er Jahre noch bieder und verklemmt, lockerte die Sexuelle Revolution der 60er Jahre so einiges, flächendeckende Änderungen kristallisierten sich dann bis zu Beginn der 80er Jahre heraus. „Es geht vor allem um die Gleichheit der Geschlechter, die enorme Fortschritte gemacht hat“, erklärt der Psychologe Felix de Mendelssohn, der an der Sigmund-Freud Privat-Universität in Wien arbeitet. Nach Potsdam war er vergangenen Freitag auf Einladung des Einstein Forums gekommen. Wissenschaftler und Autoren verschiedener Disziplinen betrachteten in einem Workshop das Verhältnis von Sexualität und Moral. Die Frage war nicht nur, ob sich auf diesem Feld etwas grundlegend verändert hat. Man wollte auch ergründen, ob im Zuge größerer sexueller Freiheit die romantische Beziehung auf dem Rückzug sei, oder ob Monogamie und Treue wieder eine stärkere Bedeutung erhalten.

„Nicht nur die Gleichheit der Geschlechter, sondern auch die medizinische Reproduktionstechnologie sind Entwicklungen, die die intimen sexuellen Beziehungen völlig verändert haben“, so das Ergebnis von Felix de Mendelssohn. Die Idee der Treue nicht nur während sondern auch vor der Ehe, sei heute kaum noch ein Thema. „Neu ist die Vorstellung, dass Sexualität etwas ist, bei dem man mehr experimentieren kann“, so der Psychoanalytiker. Auch die Liberalisierung der Homosexualität zähle zu den Änderungen. „Das ist für uns Analytiker sehr interessant, denn das schafft auch eine stärkere Akzeptanz der eigenen Bisexualität.“ Enge Geschlechterrollen seien heute kein Thema mehr.

Zwar sehe man auch einen Trend zu monogamen Beziehungen bei den über 30-Jährigen. „Die tatsächlich gelebten Partnerbeziehungen scheinen uns heute nicht so anders als die in den 50er Jahren. Aber sie sind trotzdem sehr anders“, sagt de Mendelssohn. Die Menschen hätten aus den Erfahrungen von freier Liebe und und Liberalisierung gelernt. Es gehe vor allem auch um die Gleichstellung der Frau. „Die Frauen haben heute viel mehr mitzureden und stellen auch Forderungen“, sagt der Analytiker. Die Männer würden sich darauf einstellen, das patriarchalische Gehabe sei endgültig vorbei. Die Forscher beobachten heute auch, dass Mädchen mit ersten sexuellen Erfahrungen viel früher beginnen als Männer. „Bei 17-, 18-Jährigen ist oft der Mann verunsichert, weiß nicht wie es geht, und die Frau hat schon viele Erfahrungen.“

Die Frage, was denn heute eigentlich „guter Sex“ sei, kann de Mendelssohn allerdings nur schwer beantworten. Als Psychoanalytiker habe er naturgemäß mehr mit den Störungen zu tun. Sowohl die Gleichheit wie die Differenz der Geschlechter wird heute anerkannt. Und das bereite auch Schwierigkeiten. Denn die Unterschiede der weiblichen und männlichen Sexualität blieben bestehen. Susan Neiman, Leiterin des Einstein Forums, zitierte in diesem Zusammenhang einen Beitrag der „New York Times“, wonach die männliche Begierde mehr mit dem Körper zu tun habe, die weiblich hingegen stärker damit, begehrt zu werden.

Doch so einfach ist es dann auch wieder nicht. Schließlich sind die Menschen, wie de Mendelssohn erinnert, auch bisexuelle Wesen. Die Frau habe viele männliche Impulse und umgekehrt. „Eine wirklich befriedigende Beziehung ist eine, in der viel von den anderen Seiten des Partners erlebt werden kann“, meint der Analytiker. Heute sei eine größere Freiheit bei der Ausgestaltung der Sexualität vorhanden. „Ich höre von Paaren, die vor allem mit gegenseitiger Masturbation ihre sexuelle Beziehung leben“, erzählt er. Das müsste ihn als Psychoanalytiker eigentlich stören. „Doch der Orgasmus ist nicht unbedingt das einzige, was eine Beziehung gut macht“, sagt er.

Die Liberalisierung hat allerdings auch zu Verwirrungen beim Unterschied der Geschlechter geführt. „Wenn man etwa an die Postporn-Bewegung denkt, oder dass Frauen sich Penisattrappen umschnallen, um als Mann zu agieren, dann sind das Irrungen, bei denen die Idee, dass die Geschlechter gleiche Rechte haben und einander anerkennen müssen, falsch verstanden wird“, meint de Mendelssohn. „Die Tatsache, dass wir jetzt viel gleicher sind, heißt nicht, dass der andere nun genauso denkt, fühlt und handelt.“

Die Nachwehen der sexuellen Revolution sind weitgehend. Schon Herbert Marcuse habe vorausgesagt, dass die Menschen durch die Befreiung gesellschaftliche Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit, Leistung und Disziplin verlieren und zu „Konsumbabies“ würden. Es werde nur noch um Angebot und Nachfrage gehen. „Und da hat Marcuse weitgehend Recht gehabt“, so de Mendelssohn. Auch Mariam Lau, Chefkorrespondentin der „Welt“ und Autorin des Buches „Die neuen Sexfronten“, sieht eine Ambivalenz in der sexuellen Befreiung. Die Befreiung von Angst, Verklemmung und Hilflosigkeit in den 60er Jahren sei nötig gewesen. „Aber auf der anderen Seite ist auch viel passiert, was eine negative Wirkung hatte“, so die Autorin. „Etwa die Politisierung von Sexualität, die Kleinfamilie wurde als Keimzelle des autoritären Staates gesehen, den Männern wurde ein Schuldgefühl eingeimpft. Der Vater und der autoritäre Führer verschmolzen damit.“

Die Frauenbewegung habe dies noch verstärkt, indem sie die Assoziation von Sex und Gewalt verankert habe. Männerfantasien seien auf Angst und Hass bezüglich der Frauen reduziert worden. „Der Mann und Sex wurde zu einem Problem, der Penis zu einer Waffe.“ Daraus habe sich eine Verhandlungsmoral entwickelt. Aus Angst vor Überwältigung baue man daher heute in sexuelle Begegnungen Zwischenschritte ein, um sich zu vergewissern, dass auch alles akzeptiert wird. „Es ist ein Verdachtsmoment in die Sexualität gekommen“, so die Autorin. „Es sind neue Ängste und Aggressionen entstanden.“

Mariam Lau findet es falsch, dass versucht wurde, das Dunkle und Unberechenbare an der Sexualität wegzuschieben. „Keine Frage, Gewalt in der Beziehung musste benannt und strafbar gemacht werden. Aber man muss auch die Ambivalenz der Sache im Auge behalten.“ Die Studentenbewegung habe die eigenen inneren Konflikte nach außen geschoben. „Das wurden dann Konflikte zwischen den eigenen Wünschen und der Institution oder dem Staat. Das ist ein unerwachsener Umgang mit den eigenen Ambivalenzen.“ Die Sexualität habe dadurch ihre Privatheit und Intimität verloren, man sei sich nicht mehr als Mann und Frau gegenüber getreten, sondern als Vertreter politischer Ansichten. „Dadurch ist viel verlorengegangen.“ Hinzu komme, dass der deutsche Feminismus die Rolle des Mutterseins als Konzept gar nicht kannte. „Schon gar nicht, dass Kinder eine Frau erfüllen und glücklich machen können“, so Lau. „Das war ein Fehler.“

Eine Rückkehr zu Monogamie und Treue hält Mariam Lau allerdings auch für verkehrt. „Die Gesellschaft kann sich nicht vornehmen, etwas anders zu machen. Das war ja gerade der Fehler damals.“ Zurück in die 50er Jahre könne niemand wollen. Aber man sollte beim Sex dazu zurückkommen, dass es eine Privatsache ist, die nicht verhandelbar ist und ihre eigenen Ambivalenzen hat.  Wobei Felix de Mendelssohn anmerkte, dass eine solche Rolle rückwärts in einen „neuen Biedermeier“ derzeit tatsächlich zu beobachten sei. Also wieder alles anders.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })