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Landeshauptstadt: Als der Arzt mit Pferdewagen kam

Friedrich Riemann aus Golm hat ein Buch über die medizinische Versorgung nach 1945 geschrieben

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Friedrich Riemann hat mehrmals im Leben Glück gehabt. Als junger Mann, Medizinstudent, verunglückte er mit dem Motorrad, knallte mit dem Kopf aufs Straßenpflaster. Die Helmpflicht gab es 1962 noch nicht. Es hätte ihn auch schon als Kind erwischen können, sagt er, als er an einer Hirnhautentzündung erkrankte. Überlebt habe er damals nur, weil sein Vater, Landarzt mit einer Praxis, ihm aus Westberlin Penicillin besorgte, aus dem West- in den Ostsektor schmuggelte. Das war damals nicht unüblich. In der Nachkriegszeit war die medizinische Versorgung der Bevölkerung Ostdeutschlands äußerst problematisch. „Das kann sich heute keiner mehr vorstellen“, sagt er.

Riemann, der bis vor wenigen Jahren selber praktizierender Hausarzt in Golm war, kennt viele solcher Geschichten, aus dem Berufsalltag seines Vaters, von Kollegen, Freunden, ehemaligen Patienten. Und dachte sich schließlich: Man müsste das alles mal aufschreiben. Erst tat er das für sich selbst – dann wurde ein Buch daraus. „Hoffnung einer verlorenen Generation“ heißt es, erschienen 2015, im Jahr der Erinnerungen an das Kriegsende und den Neubeginn in Deutschland.

Die Mischung aus Tagebuchaufzeichnungen, Heimatroman und medizinischen Reportagen macht es dem Leser nicht immer leicht. Doch wenn man Riemann ein Weilchen zuhört, spürt man sein Anliegen, das er mit dem Projekt verbindet: Festhalten, was schon fast vergessen ist. Weil es die Menschen, die das damals erlebten, nicht mehr gibt. Auch Riemann, geboren 1942 in einem Dorf bei Magdeburg, war ein kleiner Bub nach dem Krieg. Im Buch trägt eine Kinderfigur seine biografischen Züge.

Das Glück liegt für viele damals darin, den Krieg überlebt zu haben. Doch dann kommen Hunger, Kälte, mangelnde Hygiene. Krankheiten können sich allerorts ungehindert ausbreiten. Ein Gesundheitssystem existiert praktisch nicht, medizinisches Personal ist Mangelware, die Infrastruktur kaputt. Dazu kommen ungeklärte Zuständigkeiten und die zunehmend schwierige politische Situation. Anfangs verhandeln die Ärzte noch direkt mit den Krankenkassen, dann wird das Gesundheitssystem verstaatlicht. Polikliniken und Krankenhäuser erhalten größere Kontingente an medizinischer Ausrüstung als ein Hausarzt auf dem Land.

Über allem schweben die Russen mit ihrer Autorität, die sogenannte Entnazifizierung fegt durchs Land, erwischt manch Unschuldige und lässt andere davonkommen. Beim ersten Nachkriegsmanöver der Russen fahren sie Kolonne durchs Dorf und landen mit dem Panzerrohr bei einem Bauern in der Küche.

Trotzdem geht das Leben weiter. Friedrich Riemanns Vater fährt, wie der Arzt im Buch, anfangs mit einem Pferdewagen über die Dörfer, macht Hausbesuche, bringt Kinder zur Welt und Schwerkranke auf die Isolierstation eines Behelfskrankenhauses, eingerichtet in einer alten Villa. 1947 bekommt er endlich ein Auto, einen alten DKW, den ein Bauer jahrelang in der Scheune versteckt hatte, damit er in den letzten Kriegsjahren nicht noch konfisziert würde. Wie sie das Auto entdecken und flottmachen, ist eine der authentischen Geschichten im Buch. Ebenso sind viele Krankheitsgeschichten so erzählt, wie sie sich zugetragen haben mochten: lebensbedrohliche Kinderkrankheiten wie Polio, verschleppte Infektionen und Arbeitsunfälle – der Arzt wurde erst gerufen, wenn man selbst nicht mehr weiterwusste. Dazu kamen damals psychische Erkrankungen, die kaum als solche diagnostiziert und noch seltener behandelt wurden. Traumatisierte Kriegsheimkehrer litten an Verletzungen, tranken Alkohol gegen Phantomschmerzen amputierter Gliedmaßen und ihre Perspektivlosigkeit. Verwaiste Eltern kamen mit dem Verlust ihrer Kinder nicht zurecht, und noch immer wurden Menschen vermisst. Eine psychologische Betreuung gab es nicht.

Im Buch lässt Riemann Arzt und Schwestern sich aufopferungsvoll und mit viel Fantasie um ihre Patienten kümmern – manchmal brauchen diese weniger Medizin als jemanden, der zuhört, eine Wohnung vermitteln kann, einen Job, ein Fahrrad – oder neuen Familienanschluss. Vieles fügt sich wie von Zauberhand zu kleinen Geschichten mit Happy End, Riemann lässt im Buch fast all seine Patienten genesen. „Na ja, ich wollte die positive Wirkung des Landarztes zeigen. Dass trotz Mangelwirtschaft mit viel Eigeninitiative so manches möglich war.“

Er selbst wusste mit 16 Jahren, dass er auch Arzt werden würde, auch weil das damals eben so war. Man trat in die Fußstapfen des Vaters. Nach dem Abitur im Magdeburger Domgymnasium mit Latein und Griechisch arbeitet er ein Jahr als Hilfspfleger im Krankenhaus, dann studiert er Medizin. 1990 liest er in einer Anzeige, dass für eine Praxis in Golm ein Nachfolger gesucht wird. 20 Jahre lang macht er dann das, was sein Vater tat – freilich unter völlig anderen Bedingungen. Das Buch ist auch eine Anerkennung der damals vom medizinischen Personal geleisteten Arbeit. „Meinen Eltern gewidmet“, hat Riemann vorweg geschrieben.

nbsp;Steffi Pyanoe

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