Homepage: Am Anfang war die Stadt beängstigend
Stephanie Seidel ist blind. In Potsdam hat sie Jura studiert. Heute leitet sie die Beratungsstelle für Blinde.
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Stephanie Seidel ist blind. In Potsdam hat sie Jura studiert. Heute leitet sie die Beratungsstelle für Blinde. Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir. Das Studium ist beendet, die Ausbildung abgeschlossen. Doch was kommt dann? Diese PNN-Serie verfolgt das Schicksal von einzelnen Absolventen der drei Potsdamer Hochschulen, so genannten Alumni. Mit welchen Vorstellungen haben sie ihr Studium betrieben? Was haben sie in Potsdam gelernt? Und wie sieht ihr Alltag heute aus? Von Franziska Rothmann Am Anfang war da Skepsis. Stephanie Seidel hatte Vorurteile wie viele andere auch. Ein Jura-Studium sei trocken, die Rechtswissenschaft nur „Paragraphenreiterei“. Dennoch entschloss sie sich, das Studium an der Universität Potsdam aufzunehmen und mit der Zeit fanden Gesetze und Paragraphen ihr Interesse. Ihren Studienort wählte die heute 33-Jährige nicht zufällig aus. Besonderen Wert legte sie auf die Angebote der Hochschule für Sehbehinderte, denn Stephanie Seidel kann von Geburt an nur Farben und grobe Umrisse erkennen. Sie ist medizinisch gesehen blind. Doch lernt man die junge Frau kennen, tritt dieses Handicap schnell in den Hintergrund. 1993 kam sie aus Marburg, wo sie ihr Abitur absolviert hatte, nach Potsdam. „Zuerst war es sehr beängstigend und erschreckend in der Stadt“, erinnert sie sich. Es gab zahlreiche Schlaglöcher in den Straßen und nur wenige Ampeln waren mit einem akustischen Signal für Blinde ausgestattet. Doch sei die Stadt überschaubar und so hatte sie sich bald eingelebt, sagt sie. Ihre Stimme ist klar und hinter den Worten steckt Kraft. Stephanie Seidel nickt zustimmend, sie ist eine starke Frau. „Wenn man blind ist, muss man sich irgendwann entscheiden: bleibt man aus Angst zu Hause und wartet auf Hilfe oder geht man hinaus und nimmt am öffentlichen Leben teil.“ Ihre Entscheidung ist schon lange gefallen. Fünf Jahre studierte die junge Frau an der Universität Potsdam. Es lag ihr, juristische Fälle zu analysieren und Ereignissen zu rekonstruieren. Unterstützung und Entgegenkommen hat sie von fast allen bekommen. Nie habe sie das Gefühl gehabt im Stich gelassen zu werden. Nur manchmal gab es seitens einiger Kommilitonen neidische Kommentare, weil für sie als Blinde Härtefallregeln galten. So schrieb sie ihre Klausuren an einem Computer, der speziell für Blinde eingerichtet wurde. Zudem erhielt sie 50 Prozent mehr Zeit zur Lösung der Aufgaben. Nach Staatsexamen und Referendariat jedoch bekam sie keine Anstellung. Eineinhalb Jahre lang schrieb sie erfolglos Bewerbungen. Seit Juli vergangenen Jahres leitet Stefanie Seidel nun die Beratungsstelle für Blinde und Sehbehinderte des Sozialwerkes Potsdam. Zur Beratung kommen vor allem ältere, meist spät erblindete Menschen. So brauchen sie Hilfe beim Ausfüllen von Formularen oder Informationen über Beihilfen, die sie beantragen können. Dabei kann Stephanie Seidel auch eigene Erfahrungen und ihr Wissen aus dem Jurastudium, das sie mit dem Schwerpunkt Verwaltungsrecht beendet hat, gut einbringen. „In einigen Fällen helfen wir auch rechtliche Probleme zu lösen“, erklärt sie. Zudem zeigt Stephanie Seidel zusammen mit ihrer Kollegin den Blinden oder Sehbehinderten, welche Hilfsmittel ihnen zur Verfügung stehen und beide geben Tipps bei der Bewältigung der Behinderung im Alltag. „Manchmal müssen sich die Menschen auch einfach nur ausweinen. Wenn jemand gerade erst sein Augenlicht verloren hat, fließen hier viele Tränen.“ Neben den Gesprächen mit Betroffenen arbeitet die Beratungsstelle auch eng mit der Stadt Potsdam zusammen. In vielen Fragen können Stephanie Seidel und ihre sehende Kollegin die Stadt und die Verkehrsbetriebe oder auch Architekten und Ingenieure beraten, so dass der öffentliche Raum für Blinde immer weniger eine Gefahr darstellt. Schon Kleinigkeiten vereinfachen das Leben von Blinden um ein Vielfaches. Wichtig sei es, dass Fußwege nicht vollkommen auf Straßenhöhe abgesenkt werden, weil blinde Menschen dann nicht mehr erkennen können, wo der Bürgersteig zu Ende ist. Und das ist nur eines von vielen Beispielen, die Stephanie Seidel aus dem Alltag zu berichten weiß. Die junge Frau fühlt sich wohl in Potsdam, vor allem weil es so viele Parks und Wälder in der näheren Umgebung gibt. Sie wandert gerne mit ihrem Mann zusammen und entspannt sich in der Natur. Manchmal geht sie auch ins Kino, sie kann die Filme sehen, weil sie genau hinhört. „Für mich ist es ein tolles Gefühl unabhängig zu sein. Ich kann hinausgehen, alleine nach Hause laufen und muss nicht aus Angst auf ein Taxi warten“, sagt die sie. Trotzdem hat sie auch noch einige Verbesserungsvorschläge, die sie irgendwann verwirklicht sehen will. Eine große Erleichterung für Sehbehinderte und Blinde wären amtliche Formulare und Bescheide auf Diskette oder Kassette. Wieder ein Stück mehr Unabhängigkeit für Blinde. Auch wünscht sich Stephanie Seidel, dass mehr junge sehbehinderte Menschen mit ihren Problemen den Weg zu ihr in die Beratungsstelle finden. Sie weiß aber, dass Veränderungen ihre Zeit brauchen. Mit dem dafür notwendigen langen Atem und ihrer Hartnäckigkeit lässt sich jedoch gewiss noch einiges bewegen.
Franziska Rothmann
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