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Landeshauptstadt: Am Freitag ist Abiball

Siebzehn Jahre liegen seit der zehnten Klasse hinter ihm – jetzt legte Stephan Litzba das Abitur an der Heinrich-von-Kleist-Abendschule ab

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Eine staubige Landstraße vor Pristina, in einer der ärmsten Regionen Südosteuropas – dem Kosovo. Es ist der Sommer 2001 und Gruppenführer Stephan Litzba sitzt auf seinem Bundeswehr-Fuchs-Panzer. Heute begleitet er einen Konvoi: Mit zwei Bussen fahren Einwohner eines serbischen Dorfes in die Hauptstadt Pristina – um Verwandte zu besuchen. Während einer Fahrpause wird Litzba Zeuge einer Szene, die er nicht wieder vergisst: Während sich ein roter Wartburg dem Konvoi nähert, läuft plötzlich ein Mädchen auf die Fahrbahn. Hilflos beobachtet Litzba, wie sich Auto und Kind aufeinander zu bewegen – bis das Mädchen vom Auto erfasst wird in die Luft fliegt – „wie eine Puppe“, erinnert er sich. Sekunden vergehen, in denen das Kind reglos auf der Straße liegt. Dann kommt es zu sich: „Als ob es jemand mit der Hand antippt: Ne, du noch nicht“, erklärt Litzba. An diesem Sommertag im Kosovo gerät der Potsdamer aus der Fassung: Das verletzte Kind ist längst abgeholt worden, da schreit er immer noch den Fahrer des Wartburgs an, „obwohl der ja nichts verstand“. Irgendwann nimmt ihn sein Vorgesetzter zur Seite. Zurück im Panzer dann der Zusammenbruch: Tränen fließen, Litzba will nach Deutschland telefonieren, mit seiner Tochter sprechen, die gerade ein Jahr geworden ist. Aber er hat sein Telefon nicht dabei.

„Die Zeit im Kosovo hat mich wirklich verändert“, glaubt Litzba. Der 33- Jährige erzählt offenherzig aus seiner Lebensgeschichte. Manchmal schleicht sich Erstaunen in seine Stimme. Warum alles so gekommen ist, wie es gekommen ist – darauf hat der kräftige Mann mit den gutmütigen Augen nicht immer eine Antwort. „Wenn ich das nicht alles erlebt hätte, dann wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin“, ist für ihn auf jeden Fall klar. Im Sommer 2007 legt er an der Heinrich-von- Kleist-Abendschule das Abitur ab.

Dass er das Abitur pünktlich zur Einschulung seiner Tochter schafft, freut ihn: Die Schule, in die sie ab August gehen wird, kennt der Vater nur zu gut: In der heutigen Eisenhart-Schule hat er bis zur zehnten Klasse gelernt. Als er 1990 den Abschluss in der Hand hat, kann sich seine Mutter nicht durchsetzen: Abitur will der 16-Jährige jetzt auf keinen Fall machen. Eine richtige Alternative hat er aber auch nicht. Letztendlich nimmt er die freigewordene Lehrstelle eines Klassenkameraden an und lernt Klempner. Dass der Beruf nichts für ihn ist, merkt er schon während der Ausbildung. Trotzdem macht er die Gesellenprüfung: „Das brauchste“, sagt er sich.

In den 90er Jahren dann probiert er Verschiedenes: Er arbeitet als Klempner und Hauswart, steigt zum „Geschäftsführer Hauswarte“ auf. Dann wird er Handelsvertreter – wie seine neue Freundin. Er muss in den Supermärkten dafür sorgen, dass die Regale voll sind: „Kämme, Waschtaschen, Haargummis, Nagelscheren“. Litzba beliefert Supermärkte „bis hoch zur Ostsee“. Aber er verliert seinen Job wegen „Umstrukturierungsmaßnahmen“.

Der Schritt in die Bundeswehr, für die sich Litzba 2000 vier Jahre verpflichtet, bedeutet für ihn zunächst einfach „vier Jahre Geld“. Er schlägt eine Unteroffizierslaufbahn ein. Mit einem Kumpel entschließt er sich 2001, in den Kosovo zu gehen. Dort erlebt er nicht nur den 11. September, sondern auch den ersten Geburtstag seiner Tochter. Urlaub bekommt er dafür keinen – er schickt einen Freund vorbei. Als er zurück nach Deutschland kommt, geht die Beziehung zu seiner Freundin kaputt: „Wir haben einfach nicht mehr miteinander gesprochen.“ Litzba muss sich den Umgang mit seiner Tochter vor Gericht erstreiten.

2004 ist sein Militärdienst vorbei. Litzba beginnt einen Sanitäterlehrgang am Sankt-Josephs-Krankenhaus. Dabei lebt er auf, die Arbeit mit Patienten macht ihm „irre Spaß“. Trotzdem gibt er die Sache auf, als er einen Job angeboten bekommt: Als Trockenbauer errichtet er nun Gipskartonwände in Fertigbauhäusern. Richtig zufrieden ist er damit nicht: Immer öfter denkt er über ein Studium nach: Medizin oder Psychologie schwebt ihm vor. „Irgendwas muss ich machen, sonst werde ich blöd im Kopf“, sagt er sich.

Er beginnt mit der Abendschule. Montag bis Freitag von 17 bis 22 Uhr setzt er sich jetzt wieder hinter die Schulbank: „Schon alleine das Schreiben tat weh“, erinnert er sich an den Anfang. Auch neue Freundschaften schließt er in seiner Klasse: „Da treffen Persönlichkeiten aufeinander“, beschreibt er den Unterschied zu einer „normalen“ Schule. Am Freitag nun ist Abiball – in der Plantagenklause. Jana Haase

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