Neulich in der MENSA: Anruf aus Moskau
Manchmal kann man sich den Weg in die Mensa sparen. Letztlich war ich zu einer deutsch-russischen Tagung in der Staatskanzlei.
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Manchmal kann man sich den Weg in die Mensa sparen. Letztlich war ich zu einer deutsch-russischen Tagung in der Staatskanzlei. Das Mittagessen war inklusive. Wieso auch nicht, so konnte man ein wenig Kontakt zu den russischen Gästen knüpfen. Als sich ein orthodoxer Priester neben mich setzte, war mir klar, dass ich reagieren musste. Zumal man vorher stundenlang über den Verfall der Werte gesprochen hatte. Ich wünschte ihm umgehend guten Appetit. Der Priester sah mich nicht an, murmelte nur etwas in sich hinein, hob die Hand zur Brust und bekreuzigte sich. Erst dann wünschte er mir mit lauter Stimme „Prijatna Appetita!“. Wie konnte ich das nur vergessen, dass er erst einmal dem Herrn für das täglich Brot zu danken hatte? Peinlich. So viel zum Thema Werteverfall. Gottes Diener sind eben doch konservative Menschen, die an Traditionen und Gebräuchen festhalten. Was moderne Gesellschaft immer dann zu schätzen wissen, wenn ihnen die Werte abhanden kommen. Plötzlich erhallte eine Trompetenfanfare. Der Geistliche griff in seine Soutane und zog ein unverschämt großes Multimedia-Handy heraus. Nein er könne nicht kommen, er sei gerade nicht in Moskau, verkündete er knapp, aß schnell auf und verschwand ebenso plötzlich wie er gekommen war. Später in der Konferenz tippte er unentwegt etwas in sein nagelneues Laptop, vermutlich E-Mails. Unsereins kritzelte unleserliche Notizen mit leergeschriebenem Kuli ins Heft. Wer war nun der Traditionalist, wer der Modernisierer, wer hatte welche Werte, wer nicht? Fragen über Fragen. Das nächste Mal gehe ich besser wieder in die Mensa. W. Kotti
W. Kotti
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