Experte warnt vor mehr Obdachlosigkeit in Potsdam: „Auch Akademiker sind betroffen“
Welche Wege in die Armut führen - und wer davon betroffen ist - schildert Armutsexperte Christoph Butterwegge im PNN-Interview.
Stand:
Herr Butterwegge, Sie forschen seit Jahren zum Thema Armut. Wann sollte man sich Sorgen vor dem sozialen Abstieg machen?
Gefährdet sind vor allem jene, die in den Niedriglohnsektor abgedrängt werden. Das bedeutet, dass man nicht mehr gefragt ist auf dem Arbeitsmarkt. Manchmal ist ein sehr geringer Lohn in der Folge auch verbunden mit dem Verlust der Wohnung oder der Partnerin und der weitere soziale Absturz geht bis zur Obdachlosigkeit. Von dieser Entwicklung sind mittlerweile auch Akademiker und (Solo-)Selbstständige betroffen. Das passiert in letzter Zeit häufiger, vor allem in den Großstädten. Es gibt den Begriff „Doktor Wohnungslos“. Das sind nicht nur Einzelfälle.
In vielen Städten gibt es mittlerweile Tafeln, die Lebensmittel fast kostenlos an Bedürftige verteilen. Ist das eine gute Idee?
Nicht unbedingt. Einerseits bekommen die „Kunden“ Lebensmittel, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Auch sind die Ausgabestellen wichtig für die sozialen Kontakte. Es handelt sich oft um einen Treffpunkt von Menschen, die ein ähnliches Schicksal haben. Andererseits besteht die Gefahr, dass der Sozialstaat wegen der Tafeln seine ureigene Verantwortung nicht mehr wahrnimmt, indem er auf die karitativen Einrichtungen verweist. Die Tafeln können aber nur eine Ergänzung sein, kein Ersatz für den Sozialstaat. Die Armen haben einen Anspruch auf Hilfe und müssen nicht betteln gehen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass sich unser Sozialstaat zu einem Almosen- und Suppenküchenstaat entwickelt.
In Berlin gibt es viele Arme, wie sieht es in einer Stadt wie Potsdam aus?
Die Lage auf dem Wohnungsmarkt ist immer noch sehr angespannt. Wohnungen werden als Ware behandelt, wie Dosenwürste und Wegwerftaschentücher. Das dürfte nicht sein, weil es ein Menschenrecht auf eine Wohnung gibt. Hier muss der Staat seine Verantwortung für die Daseinsvorsorge wahrnehmen und wieder mehr Sozialwohnungen bauen. In Potsdam gibt es auch eine verdeckte Obdachlosigkeit. Man kommt dann bei Bekannten unter, oder vorübergehend in Notunterkünften. Auch Frauen sind häufiger als früher von Obdachlosigkeit bedroht. Die schlüpfen dann eher bei einem Mann unter. Das bedeutet, dass sie zwar zunächst von der Straße sind, sich aber möglicherweise in eine neue Abhängigkeit begeben und häuslicher Gewalt ausgesetzt sind.
Mit ihm sprach Stefan Engelbrecht.
ZUR PERSON: Christoph Butterwegge, 65, ist Professor für Politikwissenschaften an der Uni Köln und Experte für Armutsforschung.
Stefan Engelbrecht
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