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Homepage: Aus Verzweiflung gespielt

Esther Bejarano erinnerte sich an Auschwitz

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Esther Bejarano erinnerte sich an Auschwitz Erst als Esther Bejarano die Nummer 41948 auf den Arm tätowiert wurde, bekam sie Angst. Sie fragte sich, wo denn die anderen 40 000 Menschen in dem Konzentrationslager sein sollten. Nach der langen, erniedrigenden und für viele tödlichen Fahrt in Viehwaggons zum ostpolnischen Ort Auschwitz erwarteten freundliche Männer in Zivil den Transport mit Juden aus Deutschland. Alte, Gebrechliche, Kranke und Mütter mit Kleinkindern wurden auf LKWs verladen. Da dachte Esther Bejarano noch, dass es in einem KZ doch nicht so schlimm sein konnte. „Wenn die Schwachen gefahren werden, das schien doch human.“ Als sie kurz darauf mit den anderen jüngeren Häftlingen geschoren und tätowiert wurde, wusste sie, dass die Selektion an der Rampe nur der Vorgeschmack gewesen sein konnte. Die damals 17-jährige, die als deutsche Jüdin von Berlin deportiert worden war, musste fortan Zwangsarbeit leisten. Riesige Steinbrocken von einer Seite des Feldes auf die andere tragen. Und am nächsten Tag wieder zurück. Völlig sinnlose Arbeit. „Die Devise war Vernichtung durch Arbeit, und wenn es keine vernünftige Arbeit gab, dann mussten wir eben unnütze Dinge machen“, erinnert sich die heute betagte Frau. Anfang dieser Woche war sie als Zeitzeugin zu Gast in einem Seminar an der Fachhochschule Potsdam, um ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Wie schon in den Viehwaggons starben viele der Häftlinge bei der Zwangsarbeit an Erschöpfung. Dass die anderen, die mit den LKWs weg gebracht worden waren, in den Gaskammern ermordet wurden, war der jungen Frau erst später klar geworden. Sie hatte das vermeintliche Glück im Lagerorchester das Akkordeon spielen zu dürfen. So kam sie zumindest aus den überfüllten Baracken heraus, in denen man auf dem kalten Boden schlafen musste. Doch fortan war es ihre Aufgabe, zu spielen, wenn morgens die Kolonnen zur Zwangsarbeit zogen. „Wir hatten ein schlechtes Gewissen, weil wir so den Nazis dabei halfen, dass die Kolonnen im Gleichschritt marschierten“, erinnert sie sich. Später mussten sie spielen, wenn Transporte direkt in die Gaskammern gebracht wurden. Aus den Zügen wurde ihnen sogar zugewunken, die Musik vermittelte den Menschen ein beruhigendes Gefühl. „Wir haben aus Verzweiflung weiter gespielt“, sagt Esther Bejarano heute. Die Musik war eine Taktik der SS, damit die Menschen ohne Widerstand und ahnungslos in den Tod gingen. „Vielleicht war es aber auch richtig, dass wir gespielt haben, so hatten die Menschen wenigstens keine Angst“, überlegt Bejarano heute. Doch sicher ist sie sich dabei nicht. Damals liefen ihr beim Spielen die Tränen herunter. Jeden Tag. Dann begann die Geschichte ihrer Rettung. Für die Nazis war sie eine „Viertel-Arierin“, weil die Mutter ihres Vaters keine Jüdin war. So wurde sie vom Roten Kreuz aus Auschwitz herausgeholt und im Frauen-KZ Ravensbrück interniert. „Ein schreckliches Lager, aber kein Vernichtungslager“, sagt Esther Bejarano. Sie musste fortan für Siemens Zwangsarbeit leisten, Schalter für U-Boote zusammensetzen. Wann sie konnten, sabotierten die Zwangsarbeiterinnen diese Arbeit; unzählige der Schalter waren nicht funktionstüchtig. Den folgenden Todesmarsch zum Kriegsende konnte Esther Bejarano durch eine List entfliehen. So kam es, dass sie wieder Akkordeon spielen musste. Diesmal aber für Russen und Amerikaner, die am 8. Mai 1945 um ein brennendes Hitler-Bild herum tanzten. „Das war meine zweite Geburt.“ Jan Kixmüller

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