Von Henri Kramer: Berge Ein Besuch in Annaberg-Buchholz
In der Heimat von Hans-Jürgen Scharfenberg geht es nicht nur landschaftlich auf und ab. Seine Jugendzeit prägt den 56-Jährigen bis heute.
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Glick auf.“ Den Gruß in breitem sächsischem Dialekt hat er früher täglich gehört. Heute muss Hans-Jürgen Scharfenberg schmunzeln, wenn er diese typische Redensart aus seiner Heimatstadt Annaberg-Buchholz hört. „So sind wir eben“, sagt er dann und meint die Menschen im Erzgebirge.
Eigentlich ist Hans-Jürgen Scharfenberg einer, der polarisiert. Zu ideologisch, sei er, sagen seine Gegner: nicht kompromissbereit. Dazu ein früherer Stasi-Mann. Zum zweiten Mal kämpft der 56-Jährige Linke gerade um das Potsdamer Oberbürgermeisteramt. Viele glauben, dass es seine letzte Chance ist, in der Politik ganz nach vorn zu kommen. Umso erstaunlicher ist es, wie der 56-Jährige auch jetzt fast augenblicklich entspannt, wenn er über seine Heimatstadt redet. Über seine „glückliche Kindheit und Jugend“ in Annaberg-Buchholz.
Wenn er davon – selbst jetzt in hektischen Wahlkampfzeiten – erzählt, holt Scharfenberg weit aus. Spricht davon, wie schön es war, als Kind an der alten Stadtmauer von Annaberg „Blödsinn zu machen“ oder „durch die Stadt zu stromern“. Er erinnert sich, wie er später als Jugendlicher mit anderen in der Kneipe saß, am liebsten im „Wilden Mann“, gelegen am Markt von Annaberg. Dass es dort Fleisch-Sülze, Brot und Bier gab. Und Scharfenberg denkt zurück, wie er mit seinen Mitschülern das auch überregional bekannte Annaberger Stadtfest, die „Kät“, besuchte – immer zwei Wochen nach Pfingsten, sieben Tage lang. „Dafür haben wir das ganze Jahr gespart.“
Ortswechsel. Annaberg-Buchholz ist wesentlich kleiner als Potsdam, liegt 600 Meter hoch im Erzgebirge – und nicht nur der sächsische Dialekt vermittelt Gemütlichkeit. Zu Hause im Heim heißt hier „darhamm“ und Restaurants haben Namen wie „Zum Neinerlaa“, abgeleitet vom Weihnachtsessen der Erzgebirger mit neun Köstlichkeiten. Plattenbaugebiete wie in Potsdams Süden gibt es in Annaberg zwar auch, doch dominiert die historische Innenstadt und in ihrer Mitte die spätgotische St. Annenkirche, eines der größten Gotteshäuser in Sachsen. Besonders sind in der Stadt auch die Straßen und Gassen, verwinkelt, mit extremen Steigungen. „Das war immer ein richtiger Marsch, wenn ich mir den Ranzen aufgesetzt habe und quer durch die Stadt zur Penne bin“, sagt Scharfenberg über seinen Schulweg in der ersten Klasse.
Und auch später, so erinnert er sich, ist er mit Freunden – berghoch und wieder herunter – „durch die Stadt gezogen, mit Kofferradios unterm Arm“. Im Alter von 18 Jahren zogen die Eltern samt ihren Kindern – zwei kleine Brüder und eine deutlich jüngere Schwester hat Scharfenberg – in die Nähe nach Oberwiesenthal. Heute lebt die Familie zerstreut über Ostdeutschland. Nur seine Frau Ursula, die er noch in der Schule kennen lernte, hat in der Nähe noch eine Cousine. Der letzte Besuch in Annaberg liegt über ein Jahr zurück.
So sind es nur noch wenige, die sich in Annaberg an ihren in Potsdam so bekannten Sohn der Stadt erinnern können. Wie überall im Osten Deutschlands hat Annaberg nach 1990 einen beispiellosen Umbruch erlebt. Betriebe machten dicht, Menschen zogen weg, Häuser wurden saniert. Heute hat Annaberg 22 000 Einwohner, zu Scharfenbergs Jugendzeit waren es 30 000. In der Lokalzeitung, der Freien Presse, sagt Redaktionschefin Sonja Lippert, „der Name Scharfenberg sagt mir nichts“. Zumindest im Stadtarchiv liegt noch die Geburtsurkunde von Hans-Jürgen, geboren am 9. April 1954, sein Vater heißt Heinz, die Mutter Christina.
Seine Familie hat ihn in vielerlei Hinsicht geprägt. „Wir waren nie üppig ausgestattet“, sagt Scharfenberg. Deswegen sei er, der älteste Sohn, zur Sparsamkeit erzogen worden. „Meine Kinder lachen mich heute aus, wenn sie hören, wie wenig wir damals hatten.“ So verdient er sich in den Ferien Geld dazu. Etwa beim VEB Plasticart Annaberg-Buchholz, einem Spielzeughersteller, bei dem Scharfenberg kleine Figuren bunt anmalt. Dazu lernt er die traditionelle Schnitzkunst aus dem Erzgebirge, von der etwa die Permetten (Weihnachts-Pyramiden) bekannt sind. „Wenn ich etwas für Freunde geschnitzt habe, war das ein Unikat“, sagt Scharfenberg. Er, der oft als ungeduldig gilt, fügt hinzu: „Das ist anders als jetzt in der Politik, da sieht man gleich ein Ergebnis.“
Noch etwas sagt Scharfenberg über sich und seine Jugend: Er habe es immer wichtig gefunden, gute Freunde zu haben. „Trickserei untereinander habe ich schon damals nicht gemocht“, sagt Scharfenberg, den Parteifreunde als jemand beschreiben, der alles kontrolliert, schwer Vertrauen fasst. Und der heute seine spätere Arbeit für die Stasi als „größten Fehler“ seines Lebens bezeichnet.
Auch die politische Prägung von Scharfenberg setzt in der Jugend ein. Sein Vater ist SED-Mitglied. Seine Mutter Katholikin. Scharfenberg, getauft und kommuniert in der kleinen Pfarrkirche Heiliges Kreuz, entscheidet sich für die Partei. „Mit 12, 13 Jahren bin ich nicht mehr zum Religionsunterricht gegangen“, erinnert sich der bekennende Atheist. Denn was er über Religion hörte, habe sich „widersprochen mit dem, was ich in der Schule erfahren habe“. Auch West-Fernsehen gab es im Hause Scharfenberg nicht.
Sowieso ist Scharfenberg – die Lieblingsfächer sind Geschichte und Deutsch – ein guter Schüler im DDR-System. Seine Zeugnisse bescheinigen ihm durchweg „gute Ergebnisse“ und in seiner Jugendzeit eine „aktive Arbeit“ in der Gruppenleitung der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der DDR-Jugendorganisation. Sein Abiturzeugnis an der Annaberger „Johannes R. Becher“-Oberschule beschreibt Scharfenberg als Musterschüler mit „parteilichem Auftreten“. Auch ein Bekannter aus damaligen Zeiten, Dietmar Schmiedgen, in dessen Hotel „Alt Annaberg“ die Scharfenbergs noch heute einkehren, wenn sie in die Heimat fahren, erinnert sich an politische Diskussionen beim Bier – meist geführt im „Wilden Mann“. Scharfenberg sei damals aber „eher unauffällig“ gewesen.
Genau das ist die vorwiegende Meinung jener, die Scharfenberg damals erlebt haben. „Er ist mir weder besonders positiv noch negativ in Erinnerung geblieben“, sagt der frühere Chemielehrer Gottfried Roscher. Scharfenbergs Klassenlehrer Bernd Tschök sieht ihn als „netten, lieben Kerl“. Sich viel genauer erinnern können die Lehrer wohl aber auch aus anderen Gründen nicht, sagt Russischlehrerin Marianne Schölzel. Damals gab es pro Jahrgang sechs Klasse á mindestens 25 Schülern.
Doch hat Scharfenberg mit der früheren Lehrerin auch heute noch sporadisch Kontakt: Marianne Schölzel wurde nach der Wende Chefin des Kreisverbands der Linken in Annaberg, man sah sich bei Tagungen. „Einmal habe ich Hans-Jürgen zufällig auch auf einer Fähre nach Norwegen getroffen, als er die Asche seines Vaters zu einer Seebestattung gebracht hat.“ Die Wahlen in Potsdam, gelesen hat sie darüber in der Parteizeitung „Neues Deutschland“, verfolgt Marianne Schölzel nun auch: „Natürlich drücke ich die Daumen.“
So geht es auch Klaus Bartl. Drei Jahre älter als Hans-Jürgen Scharfenberg ist der Anwalt – doch zur selben Zeit gingen sie an die „Becher“-Oberschule in Annaberg. Für die Linke sitzt Bartl als Abgeordneter nun im sächsischen Landtag, wie Scharfenberg mit einer Stasi-Vergangenheit. Kennen gelernt haben sich beide erst nach der Schule, als sie längst in der Politik angekommen waren. Viele aus der „Penne“ haben Karriere gemacht, überall in Deutschland, sagt Bartl: „Das Leben in den Bergen ist eben hart, aber nie hoffnungslos – wir Erzgebirger setzen uns eben durch.“
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