Landeshauptstadt: Bis der Knochen brach
Ein Drittel aller Straftaten begehen Jugendliche – Rico S. ist einer von ihnen, Daniel S. wurde Opfer
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Es ist fast genau ein Jahr her. Daniel M.*, 27 Jahre alt, wird nach einer brutalen Schlägerei mit schweren Kopfverletzungen ins Klinikum gebracht. Er war mit der Bahn nach Hause gefahren. Was dann in der Nähe des Waldstadt-Centers passierte, weiß er nur aus der Zeitung: Der Angriff hat ihm die Erinnerung geraubt. Eine Gruppe von fünf bis acht Jugendlich soll ihm in der Bahn sein Basecap geklaut haben, er wollte es zurück, stieg mit aus, wurde an der Haltestelle brutal zusammen geschlagen. Als er am Boden lag, traten die Täter gegen seinen Kopf, bis der Gesichtsknochen brach. Dann flohen sie, Daniel M. blieb liegen.
Es sind solche brutalen Überfälle und der Umgang mit ihnen, über die Deutschlands Politiker streiten. Längst ist die Diskussion auch bei Potsdams Polizeibeamten angekommen. Deren Schutzbereichsleiter Mathias Tänzer will die Kriminalität von Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht überbewerten. Doch die Zahlen sind deutlich: Ein Drittel aller Straftaten in Potsdam wird von 14- bis 21-jährigen Jugendlichen begangen – im Vergleich zu allen anderen Landeshauptstädten ist das der zweithöchste Wert nach Schwerin. 2006 waren rund 40 Prozent aller Verdächtigen bei Straftaten in Potsdam jünger als 21 Jahre – in Berlin waren es 25 Prozent. Potsdam sei eben eine sehr junge Stadt, versucht Tänzer eine Erklärung: „Da gibt es schon rein statistisch mehr Täter.“ Rund 12 000 Jungen und Mädchen zwischen zwölf und 21 Jahren leben in Potsdam – knapp acht Prozent der Bevölkerung.
Potsdams Schutzbereichsleiter verweist auf die seit drei Jahren relativ konstanten Zahlen sogenannter „schwerer Gewalttaten“ wie beispielsweise gefährlicher Körperverletzung. Acht Kinder bis zu 14 Jahren, 70 Jugendliche bis zu 18 Jahren und 65 Heranwachsende bis zu 21 Jahren weist die Statistik für 2007 in solchen Fällen als Tatverdächtige aus – im Vergleich dazu waren es 2005 in den einzelnen Gruppen mit acht, 81 und 96 Personen deutlich mehr. „Potsdam ragt bei der Jugendgewalt nicht heraus, hier gibt es keine Banden wie in Berlin“, sagt Tänzer. Der aktuelle Anteil von jungen Tatverdächtigen mit Migrationshintergrund liege bei 12,5 Prozent – bei einem Ausländeranteil in der Stadt von rund 5,5 Prozent. „Es wäre fahrlässig, würden diese Zahlen als gravierendes Problem eingestuft“, so Tänzer. Jüngere Täter begingen vor allem Ladendiebstähle und Sachbeschädigungen, werden sie älter, kämen dazu oftmals Körperverletzungen, Rauschgiftdelikte und Betrügereien mit Kreditkarten.
Über solche vergleichsweise harmlosen Delikte ist Rico S. längst hinweg. Der 18-jährige Potsdamer ist ein sogenannter Intensivtäter, der zurzeit wegen mehrfachen Raubes und etlichen Körperverletzungen für zwei Jahre und sechs Monate im Gefängnis sitzt. Eines seiner Vergehen: Im August 2006 hatten er und einige Freunde den damals 17-jährigen Hasso V. abseits einer Feier am Baggersee Am Stern stehen sehen – und ihn beschuldigt, er habe Bier verschüttet, wegen seiner langen Haare sei er sowieso eine „Zecke“. Schließlich schlug Rico S. mehrmals zu, bis sein Opfer zu Boden ging.
Wie viele junge Leute wie Rico S. es in Potsdam gibt, lässt sich laut Schutzbereichsleiter Tänzer nicht sagen. Allerdings würden in jedem Jahr zehn als besonders problematisch eingestufte Jugendliche in dem 2003 begonnenen Projekt „Top Ten“ betreut. Dies geschieht, ohne dass die jungen Straftäter es wissen. „Wir versuchen bei den zehn Jugendlichen besonders intensiv, sie in einen Job zu vermitteln, sie ein Anti-Aggressions-Training absolvieren zu lassen und dafür zu sorgen, dass sie ihr oft kriminelles Umfeld verlassen.“ Drei bis fünf Jugendliche könnten jedes Jahr aus der „Top Ten“-Liste gestrichen werden – sie begingen keine Straftaten mehr. „Das Verfahren ist sehr personalintensiv, kostet viel Geld“, so Tänzer.
Am Amtsgericht ist Geld offenbar nicht immer ausreichend da. Denn Potsdams Jugendrichter fürchten, dass künftig angesichts leerer Kassen nicht mehr alle Sanktionsmaßnahmen zu Verfügung stehen könnten. Die Kosten für Arrest und Gefängnis trage das Land – doch Extra-Maßnahmen wie Sozialstunden oder Täter-Opfer-Ausgleich müssten die Städte und Gemeinden zahlen. So sei Potsdam die einzige Stadt in der Region, die noch ein Training für 14- bis 20-Jährige anbiete, die dort ihre Aggressionen beherrschen lernen sollen. Bei der Durchschnittsdauer von Strafverfahren liegt Brandenburg zudem nur auf Platz 9 der Bundesländer – mit 4,3 Monaten.
Und manchmal gibt es gar kein Verfahren. So war es bei Daniel M., weil er sich nicht erinnern konnte. Die Videoaufnahmen aus der Bahn taugten nichts. Zwischenzeitlich aufgenommene Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen einen 25-Jährigen mussten wieder eingestellt werden. Eine Seltenheit, laut Polizei werden drei Viertel aller Gewalttaten in Potsdam aufgeklärt. Daniel M. nützt das nichts: „Ich kann mir nie sicher sein, dass ich den Angreifer nicht noch einmal treffe oder sogar täglich an ihm vorbeilaufe.“ Deswegen geht er kaum noch nach Mitternacht in Potsdam aus. Notfalls nimmt er ein Taxi oder übernachtet bei Freunden. Daniel M. sagt: „Die Verletzungen, die ich erlitten habe, sind zwar alle gut verheilt – aber im Grunde schaue ich dennoch jeden Tag im Spiegel in ein anderes Gesicht als zuvor.“
* Namen von der Redaktion geändert.
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