Homepage: Blick in die Akten
Joachim Gauck, ehemaliger Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, sprach an der Fachhochschule
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Es ist der einseitige Täter-oder-Opfer-Blick, der bis heute unsere Sicht auf Stasi-Akten prägt. Wann immer eine neue Enthüllung aus der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) in der Öffentlichkeit präsentiert wird, geht es entweder um die Enttarnung eines weiteren Stasi-Spitzels oder die perfiden Methoden, mit denen die Stasi Menschen bis in die intimste Privatsphäre ausspionierte.
„Doch die Akten zeigen auch sehr viel Mut“, sagte Joachim Gauck, erster Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, am Mittwoch während seines Vortrags in der Fachhochschule. Vielen Menschen hätten einfach „Nein“ gesagt oder gelogen, um so Freunde vor den Schergen der Staatssicherheit zu schützen.
Im Rahmen der von FH–Studenten organisierten Vortragsreihe „DDR-Zeitgeschichte dokumentieren! Informationswissenschaften gegen den Gedächtnisverlust“, war der 68-jährige Gauck nach Potsdam gekommen, um über seine ehemalige Behörde zu reden. Es ging ihm dabei nicht um einen wissenschaftlichen Vortrag, wie er am Anfang betonte. Gauck wollte erklären, warum es zu den Regelungen im Umgang mit den Stasi-Unterlagen kam, die Privatpersonen Möglichkeiten der Einsicht gewährt, wie es bis heute einmalig sei in der Politikgeschichte.
Gauck, damals Pfarrer in Rostock und Mitbegründer des Neuen Forums, einer Bürgerbewegung, die die Verhältnisse in der DDR Ende der 80er Jahre auf friedliche Weise ändern wollte, war schon früh mit den Stasi-Unterlagen konfrontiert. Als sich in den letzten Monaten des Jahres 1989 immer radikaler Veränderungen im politischen System andeuteten, begann man in den Stasi-Zentralen des Landes die Akten zu vernichten. „Anfang Dezember wurden daraufhin die Zentralen von Bürgern besetzt, um die Vernichtung zu stoppen“, so Gauck. Denn diese Akten waren das Herrschaftswissen der machthabenden Partei SED.
Mit dem Erhalt dieser Akten begann auch gleich die Diskussion, wie man mit ihnen umgehen solle. „Wir fragten uns, wem es nützen würde, wenn man die Akten unter Verschluss halten und somit einen Schlussstrich befehlen würde? Nur den Tätern“, sagte Gauck. Außerdem habe sich gezeigt, dass ein Schlussstrich nicht funktioniere, wie Gauck am Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik verdeutlichte. Dort habe erst die 68er Bewegung die Initialzündung für eine Aufarbeitung gegeben. Darum habe man von Anfang an darauf bestanden, dass die Akten so schnell wie möglich für die Betroffenen zugänglich gemacht werden und nicht, wie sonst üblich, einer mindestens 30-jährigen Sperrfrist unterliegen.
Trotz mancher Widerstände, die nicht, wie vielleicht zu erwarten war, von der PDS, der selbst ernannten SED-Nachfolgepartei, kamen, sondern von konservativen Parteien, wurde am 29. Dezember 1991 das Stasi-Unterlagen-Gesetz verabschiedet und trat ab 1. Januar 1992 in Kraft. „Gleich am ersten Tag waren die 20 000 Antragsformulare für eine Akteneinsicht vergriffen.“
Noch heute gehen monatlich tausende Anträge auf Akteneinsicht bei der Bundesbehörde in Berlin ein, so Gauck. Allein das zeige – obwohl es bis heute kritische Stimmen gebe – wie wichtig der Kampf für diese Institution und das Stasi-Unterlagen-Gesetz war. „Nur wenn wir uns mit dem auseinandersetzen, was auch rückblickend schmerzhaft ist, kann es uns gelingen, aus den langen Schatten der Diktatur herauszutreten“, sagte Joachim Gauck.
Dirk Becker
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