Landeshauptstadt: „Bürokratie hat sich verdoppelt“
Individuelle Lehrpläne: Grundschullehrer kritisieren in Offenem Brief steigenden Verwaltungsaufwand
Stand:
Individuelle Lehrpläne gelten als ideal. Differenziert unterrichten, jedes Kind in seinen besonderen Stärken und Schwächen fördern können – welcher Lehrer wünschte das nicht? Zu große Klassen, straffe Rahmenpläne und Bewertungsmaßstäbe aber erschweren oft eine echte Leistungsdifferenzierung. Dennoch hat jeder Pädagoge seine Methode entwickelt, auf die Bedürfnisse der einzelnen Schüler einzugehen. Romana Hanke, Lehrerin an der Potsdamer Grundschule am Humboldtring, führt ein „Pädagogisches Tagebuch“, arbeitet mit Wochenplänen, die Pflicht- und Förderanteile aufweisen, und achtet auf das soziale Umfeld, die unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen ihrer Schüler. So hat sie es einst im Studium gelernt und in dreißig Berufsjahren erfolgreich praktiziert, ohne sich erziehungswissenschaftlichen Neuerungen und Reformideen zu verschließen.
Nun aber soll sie für jedes Kind „Individuelle Lehrpläne“ für die Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch schriftlich fixieren. Seit einer Änderung der Grundschulverordnung im vergangenen Sommer sind sie und ihre Kolleginnen künftig dazu verpflichtet. „Ein bürokratischer Aufwand“, befürchtet Romana Hanke, „der von der eigentlichen Arbeit mit den Kindern abhalten wird.“ In einem Offenen Brief wandte sich die engagierte Gewerkschafterin deshalb an das Staatliche Schulamt Brandenburg mit der Bitte, Aufwand und Nutzen der individuellen Lehrpläne zu prüfen. Nicht nur die Kollegen an ihrer eigenen Grundschule weiß sie in dieser Sache hinter sich, sondern auch viele andere Pädagogen, die seit Erscheinen des Briefes in der Gewerkschaftszeitung ihre Zustimmung signalisieren.
In den vergangenen Jahren seien, so Romana Hanke, die Arbeitsanforderungen stetig gestiegen, ohne die Stundenzahl der Lehrer heraufzusetzen. Vergleichsarbeiten und Grundschulgutachten, Förderpläne und Lernstandserhebungen, die Integration von Migrationskindern, Weiterbildungen und nicht zuletzt die Betreuung von Referendaren und Studierenden – das alles habe den Verwaltungsaufwand, den ein Lehrer zu bewältigen hat, mehr als verdoppelt. „Selbst wenn man wegen der Ferien von einer 42-Stunden-Woche ausgeht, stimmt das Verhältnis nicht mehr, denn viele Lehrer sind nach dem Solidarmodell von 1990 noch immer nur in Teilzeit beschäftigt“, erklärt Romana Hanke. Ohne jeglichen Ausgleich wollen sie und ihre Kolleginnen dies nicht länger hinnehmen. Zu wichtig ist ihnen ihre Hauptaufgabe, das Unterrichten. Und das fordert ihre volle Konzentration. Die Zahl der Schüler mit Förderbedarf ist in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen, heißt es im Offenen Brief. Und die Zahl der Eltern, die die Hilfe der Lehrer brauchen, auch, denn im Einzugsgebiet der Grundschule am Humboldtring nehmen die sozialen Probleme zu.
Statt Pläne und Tabellen auszufüllen, würde Romana Hanke lieber mehr mit Schülern und Eltern sprechen, um die Kinder individuell besser fördern zu können. „Ich stecke doch mitten drin und muss nicht alles aufschreiben", wehrt sie sich gegen die zeitraubende Bürokratie.
Romana Hanke sieht sich nicht als Bremserin. Im Gegenteil. Seit den politischen Umbrüchen 1989 hat sie sich regelmäßig fortgebildet, für zwei weitere Fächer qualifiziert und in der Gewerkschaft engagiert. Die ständigen Neuregelungen aber sind auch ihr zu viel. „Man kommt nicht zur Ruhe, es gibt keine Kontinuität, man hat nicht das Gefühl, am Kind zu arbeiten.“ Viele ihrer Kolleginnen, von denen ein Großteil die 50 bereits überschritten hat, sind ebenfalls unzufrieden. Sie leiden unter chronischer Erschöpfung, fühlen sich leer und ausgebrannt. Wegen des geringen gesellschaftlichen Ansehens des Lehrerberufs trauen sie sich jedoch nicht, öffentlich darüber zu reden. Auch deshalb hat Romana Hanke mit ihren Kollegen den Offenen Brief verfasst. Sie wollen nicht meckern, sondern eine Diskussion anregen.
Und die wird es laut Schulamt bereits im März geben: in der Netzwerkberatung mit Lehrern und Leitern Potsdamer Grund- und Förderschulen. Für Olaf Schönicke, Schulrat für den Primarbereich, sind die individuellen Lehrpläne auch ohne den Offenen Brief ein Arbeitsschwerpunkt in diesem Jahr. Ihm kommt es darauf an, die guten Erfahrungen und Methoden der Grundschullehrer mit den neuen Erfordernissen zu verbinden. Er will die Lernplanung für die einzelnen Schüler effektiver gestalten, neu strukturieren und dafür auch die Zusammenarbeit innerhalb der Lehrerkollegien fördern. „Dann dürfte sich der Arbeitsaufwand auch nicht erhöhen“, hofft er und ist zuversichtlich.
Antje Horn-Conrad
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: