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Landeshauptstadt: Camping im Polarkreis

Ich komm dann mal vorbei, hatte Karsten Häcker, IT-Leiter am Potsdamer Nachhaltigkeitsinstitut, seinem Facebookfreund in der kanadischen Arktis geschrieben. Und tat es dann auch

Stand:

Was tun, wenn etwas völlig Unvorhersehbares die eigenen Pläne kreuzt? Neuschnee im Sommer zum Beispiel, ungewöhnlich selbst dort im arktischen Norden, wo Karsten Häcker eben noch zwischen blühenden Moosen zeltete, meilenweit entfernt von einer Siedlung, und nun schnell umplanen musste. „Cool bleiben und keine Panik entwickeln“, ist sein Rat, den Häcker gerne in seinen Weiterbildungskursen zum Thema Projektmanagement zitiert.

Der Spruch hat für ihn eine ganz spezielle Bedeutung, seitdem ihn diese Sache mit dem Schnee passierte. Im Sommer 2013 verbrachte er fast zweieinhalb Monate in der Arktis, nur etwa 1000 Kilometer vom Nordpol entfernt. Bei bis zu minus 15 Grad Celsius, nachts heulte der Wind ums Zelt. Allein wanderte der 46-Jährige wochenlang durch den äußersten Nordosten Kanadas. Der Leiter der IT-Abteilung des Potsdamer Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) – zu Deutsch: Institut für Klimawandel, Erdsystem und Nachhaltigkeit – erfüllte sich damit einen lang gehegten Traum. Gereist ist er immer schon gern und auch weit weg, wanderte zu DDR-Zeiten durch Rumänien, nach der Wende durch Island, radelte durch die Wüste Gobi, kletterte in den Königskordilleren in Südamerika. Nun war wieder der Norden dran.

Meist sei er bewusst allein unterwegs. Das sei kein Dogma, sagt Häcker, aber er genieße die Erfahrung, es auch allein zu schaffen. Man müsse sich gut vorbereiten – und bestimmte Restrisiken zu tragen bereit sein. Das gelte irgendwie auch für Manager. „Man muss wissen, wie weit man gehen kann oder ob man besser umdenken sollte, weil das Risiko zu groß wird.“

Er selbst hat die Strategie vielfach angewendet, zuletzt 2013. Im Juli und August ist in der arktischen Tundra Sommer. Bei Temperaturen um 0 Grad wollte er rund um Grise Fiord, die nördlichste Siedlung Kanadas, wandern und hoffte, kurz vor der Heimreise noch ein oder zwei Wochen Wintereinbruch mit etwas Eis und Schnee zu erleben. Dann kam alles ganz anders. „Ich wachte eines Tages in meinem Zelt auf und war eingeschneit. Der Winter war mit einem Temperatursturz von 10 bis 15 Grad viel zu früh und quasi über Nacht gekommen. Häcker befand sich damals gerade zig Kilometer vom Ort entfernt in einer plötzlich feindlichen Landschaft. „Ich wollte nur noch zurück ins Dorf.“ Das war in dem Neuschnee nicht einfach, nie wusste man, wie weit es darunter in die Tiefe ging – 20 Zentimeter oder zwei Meter? „Da bin ich dann einmal auch richtig böse abgestürzt“, sagt er. Und ordnet seitdem die ganzen kleinen unangenehmen Überraschungen des Alltags neu ein. „Über einen Kratzer an meinem alten Opel rege ich mich schon lange nicht mehr auf.“

Grise Fiord, die nördlichste Gemeinde Kanadas mit 130 Einwohnern, war der Ausgangspunkt der stets mehrwöchigen Wandertouren über die Insel Ellesmere Island an der Nordwest-Passage. Nach sieben Flügen war er dort, auf dem wohl nördlichsten Passagierflughafen der Welt, gelandet. Mit Zelt, Isomatte und polartauglichem Schlafsack, mit Kerosinkocher und Expeditionsnahrung, mit Müsliriegeln aus dem Drogeriemarkt. Auch Notfallmedikamente, GPS- und Solarladegerät hatte er dabei. Einen Peilsender bekam er von den Polizisten in Grise Fiord. Dass die Batterien in dem Gerät fast leer waren, wie er bald bemerkte, das verriet er keinem. „Hauptsache, meine Frau und die Kinder waren beruhigt“, sagt Häcker heute. Damals dachte er: „Das trau ich mich jetzt einfach, es wird schon gut gehen.“

Das tat es. Häcker ist heute in Potsdam und Brandenburg unterwegs, erzählt von den Wochen im Polarkreis und zeigt seine Bilder. Zeigt überraschend bunt blühende Pflanzen, prächtige Farbtupfer des kurzen Sommers, hingekleckst in eine Landschaft aus Gestein, Geröll und Gletschern. Zeigt Aufnahmen von Tieren, die den Menschen nicht als Feind erkennen und ihn, den Fotografen, stets nah an sich herankommen ließen: Moschusochsen und Polarfüchse, Schneehasen, Wale vor der Küste. Von Eisbären und Wölfen sah er nur Spuren im Schnee.

„Papa wandert gerade am Nordpol“, habe seine damals achtjährige Tochter in der Schule erzählt. „Und keiner glaubte ihr.“ Das mit dem Nordpol stimmte auch nur bedingt. Es gibt vier verschiedene Nordpole, erklärt Häcker, er orientierte sich an zweien: Das GPS zeigte den geografischen, der Kompass stets den arktischen Magnetpol. Neue Sichtweisen, auch das sei ein Ergebnis jeder Reise. Die Inuit, 90 Prozent der Einwohner des Dorfes, reden nicht viel. Oder anders. „Fragt man, wie lange ein Trip bis zu einem bestimmten Ort oder Punkt dauert, dann sagen sie: ,Bis du ankommst.’“

Über Facebook hatte er schon von Deutschland aus Kontakt zu einem Bewohner des Ortes aufgenommen, ihm geschrieben: „Ich komm dann mal vorbei.“ Als er dann tatsächlich dort aufkreuzte, waren sie überrascht. „The crazy German“, der verrückte Deutsche, nannten sie ihn. Zwischen seinen Wandertouren zeltete er am Ortsrand, eine Pension wäre zu teuer gewesen. In der örtlichen Polizeistation bekam er ab und zu einen frischen Kaffee spendiert. 25 000 Euro hat Häcker dennoch für die komplette Reise gebraucht. Inklusive Selbsterfahrung beziehungsweise Selbstbegegnung. Man lerne sich anders kennen und mögen, sagt er. Eine Therapie freilich sei das nicht. „Man muss schon vorher mit sich im Reinen sein, sonst geht das schief.“

Häcker kam heile und begeistert nach Hause zurück, so sehr, dass es ihm erst Monate nach der Rückkehr gelang, die Fotos anzuschauen. „Die sind so anders als die tatsächlichen Erlebnisse und Eindrücke, die da in meinem Kopf sind.“ Vermisst habe er nur wenig, sagt er, habe aber noch auf der Rückreise in Ottawa ein ordentliches Steak gegessen. Das musste sein. Nur die Rekonvaleszenz von zwei leicht erfrorenen Zehen dauerte ein wenig länger – aber Karsten Häcker ist eben cool geblieben.

Am 24. März ist Karsten Häcker im Fontane-Klub in Brandenburg/Havel zu Gast. Kontakt: www.hacker.berlin

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