zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Chronologie eines Ausnahmezustandes In Potsdam streikten vor allem die 1500 Arbeiter des Lokomotivwerkes

„Karl Marx“. Verhaftungen und Zuchthaus waren die Folge

Von Katharina Wiechers

Stand:

Auch im Bezirk Potsdam gab es Streiks, Demonstrationen und Unruhen. Schwerpunkte des Aufstandes waren die Städte Brandenburg, Hennigsdorf, Königs Wusterhausen, Luckenwalde, Ludwigsfelde, Niemegk, Oranienburg, Premnitz, Rathenow, Teltow und Zehdenick. In Potsdam wurden vor allem das Karl-Marx-Werk, damals Lokomotivfabrik in Babelsberg (siehe Infokasten), und das Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) bestreikt, doch im Vergleich zu den Aktionen in Brandenburg an der Havel oder in Rathenow blieb es in der Bezirkshauptstadt vergleichsweise ruhig. Dies ist vor allem auf die starke sowjetische Militärpräsenz und die Nähe zu Berlin zurückzuführen: Viele Arbeiter aus den Industriestandorten rund um die Hauptstadt zogen nach Ostberlin.

Auf einer gemeinsamen Homepage des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), der Bundeszentrale für Politische Bildung und des Senders Deutschlandradio (www.17juni53.de) wurden die Ereignisse dieser Tage zusammengetragen. Die Rekonstruktion stützt sich auf Berichte der SED, der Volkspolizei und der Staatssicherheit. „Die allgemeine Stimmung am 17.6. (...) war so, dass der größte Teil der Bevölkerung davon überzeugt war, dass die Regierung abtreten muss und die SED ausgespielt hat“, heißt es etwa in einer Aufzeichnung der SED-Stadtbezirksleitung Potsdam-Babelsberg. Die Volkspolizei berichtet: „Die Rädelsführer versuchten, die Werktätigen zu einer Demonstration zu veranlassen.“ Tatsächlich tritt mit dem Beginn der Nachmittagsschicht die gesamte Belegschaft des Karl-Marx-Werkes in Streik. Im Kulturhaus des Werkes wird eine Betriebsversammlung einberufen. Als dort der Betriebsdirekor die Menschen dazu aufruft, ihre Arbeit wieder aufzunehmen, wird er ausgepfiffen.

In der ganzen Stadt funktionieren die Telefone nicht, der Zugverkehr von und nach Berlin ist schon seit dem Vormittag eingestellt. Aufgebracht warten Hunderte Menschen auf dem Bahnhof. Um sie zu beruhigen, schickt die SED-Kreisleitung vierzig „Instrukteure“. Die Volkspolizei schätzt, dass sie es schwer haben werden, die Menschen zu beruhigen. Auf dem Bassinplatz treten Autobusfahrer in Streik. Dort, am Luisenplatz, am Platz der Einheit und am Rathaus Babelsberg versammeln sich Menschenmengen.

Um 17 Uhr verhängte die sowjetische Besatzungsmacht den Ausnahmezustand über das Stadtgebiet, der ab 20 Uhr gelten soll (siehe Bild). Gegen 18.30 Uhr wird dies in der Dortustraße per Lautsprecherwagen verkündet. Im Nu kommt es zu einem Menschenauflauf, ein 33-jähriger Fahrkartenverkäufer ruft aus der 200-köpfigen Menge heraus: „Hört doch mit der Bekanntgabe des Befehls auf! Die Volkspolizei hat sowieso nichts mehr zu sagen, macht, dass ihr fortkommt, eure Zeit ist abgelaufen!“ Ein Stasi-Spitzel beschreibt den Fahrkartenverkäufer als 1,75 Meter groß, schlank, mit rotblonden Haaren und blasser Gesichtsfarbe. Minuten später treiben Volkspolizisten die Menschen auseinander. Mit aller Kraft wehrt sich der Fahrkartenverkäufer gegen seine Verhaftung. In einen Lkw gezerrt ruft er den fliehenden Menschen zu: „Arbeiter, nehmt euch an Berlin ein Beispiel! Macht Schluss und erkämpft euch eure Freiheit!“ Das Bezirksgericht Potsdam verurteilt ihn am 23. Juni 1953 zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren.

Am 18. Juni 1953 streiken die Arbeiter im Karl-Marx-Werk weiter. 1500 Beschäftigte ziehen vor das Gebäude des SED-Büros im Werk und verlangen Rechenschaft – auch über die Verhängung des Ausnahmezustandes. Sprechchöre hallen über das Werksgelände. Die Arbeiter fordern den Sturz der Regierung. Dann trifft aus Berlin „der Jugendfreund Erich Honecker“, damals FDJ-Vorsitzender und Mitglied des SED-Politbüros, ein. Sowjetische Truppen und Panzer sind vor dem Werk aufgezogen, der sowjetische Stadtkommandant von Potsdam fordert die Arbeiter auf, den Streik zu beenden.

Unterdessen legen auch die Arbeiter im RAW die Arbeit nieder und versammeln sich auf der Schiebebühne. Ein 38-jähriger Tischler erhält lautstark Beifall für die Streikforderungen: „Freiheit wollen wir! Normen herunter! Freie Wahlen! Keine Behinderung des Ost-West-Verkehrs! Warum mischen sich russische Panzer in unsere Angelegenheiten?“, ruft er. Wie viele andere „Rädelsführer“ nimmt die Staatssicherheit auch ihn fest und sperrt ihn im Untersuchungsgefängnis Lindenstraße ein. Später bezeichnen ihn seine Vorgesetzten aus dem RAW als Drahtzieher und Organisator des Putsches im Werk. Am 20. Juli 1953 verurteilt ihn das Bezirksgericht Potsdam zu einer Haftstrafe von einem Jahr und 6 Monaten.

Mehr zum 17. Juni 1953 lesen Sie am Montag in den PNN

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })