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Die 10. Potsdamer Begegnungen diskutierten „deutsche und russische Spiegelbilder“
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Ein großes Land voller Armut, regiert von einem autoritären Präsidenten, für den Demokratie nur ein Wort ist. Dazu eine kaum zu bändigende organisierte Kriminalität, Gewalt und Alkohol und ein grausamer Krieg gegen das Volk der Tschetschenen – es ist ein düsteres Bild, das ein Großteil der Deutschen von Russland hat. Und es ist ein einseitiges Bild, basierend auf Stereotypen und auf einer oft voreingenommenen, durch tagespolitische Ereignisse dominierten Berichterstattung, wie die Teilnehmer der 10. Potsdamer Begegnungen am Montag in der Staatskanzlei feststellen mussten.
„Deutsche und russische Spiegelbilder. Was halten, was erwarten wir voneinander?“ war die zentrale Fragestellung der gestern zu Ende gegangenen Tagung. Vielleicht hätte man das Motto noch ergänzen müssen: „Was wissen wir überhaupt voneinander?“
Die etwa 30 russischen und deutschen Wissenschaftler, Politiker, Journalisten und Schriftsteller, die neben zahlreichen Vorträgen und Diskussionen in Potsdam auch den Bundespräsidenten Horst Köhler zu einem Gespräch in Berlin besuchten, zeichneten ein eher ernüchterndes Bild, was die Wahrnehmungen und das Interesse am Anderen auf beiden Seiten betrifft. Erschreckend nannte Michael Rutz, Chefredakteur des „Rheinischen Merkur“, nach den einführenden Vorträgen die Tatsache, dass vor allem die junge Generation wenig oder gar kein Interesse an Politik und erst recht nicht an den politischen Ereignissen in einem fremden Land zeigt. Ein allgemeines Phänomen, das bei der Frage nach den Ursachen bei den meisten Tagungsteilnehmern nur ein Schulterzucken als Antwort zuließ.
Michael Sommer vom Institut für Demoskopie Allensbach sagte in seinem Vortrag über das Russlandbild der Deutschen, dass es ein allgemeiner Trend in der deutschen Gesellschaft sei, sich überhaupt weniger für Politik und somit auch nicht für Außenpolitik zu interessieren.
„Politikverdrossenheit“ – auf dieser Tagung ein oft gehörtes Wort. Heike Dörrenbächer, Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, machte diese Tendenz auch in der Wissenschaft aus. „An den deutschen Hochschulen gibt es nur noch drei Professuren für Politikwissenschaften, die sich ausschließlich mit Osteuropa beschäftigen.“ Ihr Institut habe diesen rückläufigen Trend in den vergangenen zehn Jahren beobachten müssen, ohne darauf Einfluss nehmen zu können. „Der jetzige Zustand ist alarmierend“, so die Wissenschaftlerin.
Obwohl das Interesse an der Entwicklung in Russland hier zu Lande abgenommen habe und deren Einschätzung vor allem durch die Medienberichterstattung geprägt sei, sehen viele Deutsche Russland als wieder erstarkte Großmacht, fasste Michael Sommer die Ergebnisse entsprechender Umfragen des Allensbach-Instituts zusammen. Vor allem als Wirtschaftsmacht sehe man heute den russischen Staat, zu dem ein freundschaftliches Verhältnis wegen der Abhängigkeit durch die Energieversorgung unabdingbar sei.
Umgekehrt ist das Deutschlandbild in Russland vorwiegend positiv geprägt, erklärte Lev Gudkov, Direktor des Levada-Zentrums für Demoskopie in Moskau, in seinem Vortrag über das Deutschlandbild der Russen. Die Grundlage dafür liefere noch immer die Vorstellung vom fleißigen, wohlerzogenen und energischen Deutschen, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt habe. Bis heute stehe der Deutsche für wirtschaftlichen Erfolg, dem es nachzueifern gelte. Wie Gudkov sagte, werde sich dieses stereotype Bild noch lange halten, da die junge Generation in Russland ebenfalls wenig Interesse an Politik zeige und nur vier Prozent der Bevölkerung jemals ins Ausland reisen könnten. Dieser Teil lebe in den Großstädten, wo zwar ein differenzierteres, aber dennoch beschränktes Bild von den Deutschen herrsche. „In Deutschland ist man zumindest an den Werken zeitgenössischer russischer Schriftsteller interessiert. In Russland ist das überhaupt nicht der Fall“, so Gudkov. Auf beiden Seiten gebe es das Gefühl der Fremdheit gegenüber dem anderen Land. Wie diese Fremdheit überwunden werden kann, diese Frage blieb offen.
Dirk Becker
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