Landeshauptstadt: „Das gesamte Schulsystem auf den Kopf stellen“
Wie gelingt Inklusion an Gesamtschulen? Ein Gespräch mit Voltaire-Schulleiterin Karen Pölk und Referendar Frank Pagenkopf
Stand:
Frau Pölk, wie viele Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden an Ihrer Voltaire-Gesamtschule unterrichtet?
Karen Pölk: Wir haben von 540 Schülern bis zur 10. Klasse 22 Kinder mit Förderbedarf. Dafür haben wir eine Sonderpädagogin mit 18 Stunden in der Woche. Wir bräuchten eigentlich noch einen Sonderpädagogen mehr. Wir haben bewusst Herrn Pagenkopf als Referendar genommen, er ist Referendar für Physik, aber meine Intention ist, ihn an die Schule zu binden, um ihn später vor allem im sonderpädagogischen Bereich einzusetzen, da wir für das nächste Jahr auch Bewerbungen von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf für die gymnasiale Oberstufe haben und auch Spezialfälle – autistische Kinder.
Herr Pagenkopf, Sie haben zwei Mangelfächer studiert, Physik und Sonderpädagogik. Sie müssen also ein gefragter Mann in Brandenburg sein?
Frank Pagenkopf: Jein. Auf der schulpraktischen Ebene ein sofortiges Ja. In meinem Hauptseminar sind wir zehn Sonderpädagogen. Das heißt, wenn ich im nächsten Februar fertig werde, werden mit mir insgesamt zehn Sonderpädagogen fertig für das gesamte Land. Auf der formal juristischen Ebene gibt es mich nicht.
Sie sind rechtlich nicht vorgesehen?
Pagenkopf: Genau. Ich habe hier in Potsdam Physik und Geschichte auf Lehramt Gymnasium studiert. Während des Masterstudiums habe ich angefangen, Sonderpädagogik draufzusetzen. Ich habe an der Humboldt-Uni Körperbehinderten-Pädagogik studiert und Verhaltensgestörten- Pädagogik hier in Potsdam. Als ich mein Referendariat für Sonderpädagogik in Potsdam beginnen wollte, sagte man mir, das ginge nicht. Denn es gibt keine Regelung für gymnasiale Sonderpädagogen.
Genau die wird das Land für die Inklusion in der Sekundarstufe aber doch brauchen.
Pagenkopf: Ein Sonderpädagoge ist formal ein Grund- oder Oberschullehrer. Das heißt, er hat eine Lehrbefähigung bis Klasse 10. Als ich mit meinen Zeugnissen zum Landesinstitut für Lehrerbildung gegangen bin – die mich übrigens selber für das erste Staatsexamen geprüft haben - wurde mir die Zulassung zum Referendariat für Sonderpädagogik verweigert. Sie sagen, Sie sind ja Gymnasiallehrer und kein Sonderpädagoge. Sie haben zu viel studiert.
Pölk: Dabei sind Sonderpädagoge und Physiklehrer zwei Platinfunde. Einen Physiklehrer zu bekommen und dann noch mit sonderpädagogischen Fähigkeiten, so einem Referendar müsste man doch einen roten Teppich ausrollen.
Wie haben Sie trotzdem Ihr Referendariat beginnen können?
Pagenkopf: Ich habe über ein Jahr lang gekämpft. Ich habe meine Zeugnisse, die ich im Land Brandenburg erworben habe, in Hamburg und Bremen anerkennen lassen. Über die Anerkennung der brandenburgischen Zeugnisse in einem anderen Bundesland habe ich dann von Brandenburg die Zulassung zum Referendariat bekommen. Das ist doch grotesk. Aber bis heute erkennt mir das Land mein erstes Staatsexamen in Sonderpädagogik nicht an. Fest steht aber für mich: Wenn das Ministerium für meinen Fall keine Regelung findet, dann gehe ich in ein anderes Bundesland.
Pölk: Das wäre für mich eine Katastrophe. Ich brauche ihn unbedingt an meiner Schule.
Frau Pölk, was bringt Ihnen Herr Pagenkopf als Sonderpädagoge?
Pölk: Er bietet Fortbildungen in Sonderpädagogik für unsere Kollegen an, er hat mit der Sonderpädagogin eine Sprechstunde eingerichtet und mir ihr ein Inklusionskonzept für unsere Schule für die nächsten Jahre erarbeitet. Das ist ein Meilenstein für unsere Schulentwicklung. Dabei ist er eigentlich nur für Physik da.
Herr Pagenkopf, durch Ihre besondere Ausbildung sind Sie nun als Referendar an zwei Schulen tätig, an der Voltaire-Schule und an der Oberlinschule. Worin liegen für Sie die Unterschiede in der sonderpädagogischen Förderung?
Pagenkopf: Es ist eine grundsätzlich andere Auffassung von Förderung. Während ich an der Förderschule Lehrer bin und die Kinder unterrichtsimmanent fördere, ist hier die Sonderpädagogin beratend und begleitend da. Sie koordiniert mit ihren wenigen Stunden die Förderung. Sie kann keinen selbstständigen Unterricht geben. Ein anderer Punkt ist: An der Oberlinschule hat jedes Kind aufgrund des Unterrichts über 30 Stunden sonderpädagogische Förderung in der Woche. Hier hat es eine, wenn es gut läuft. Außerdem haben wir an der Oberlinschule dieses multiprofessionelle Team im Hintergrund: eine Ärztin, Psychologen, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Logopäden.
Pölk: Wir haben das Problem, dass unsere Sonderpädagogin keinen eigenen Raum hat und unsere Inklusionskinder keinen Rückzugsraum haben. Wir haben zwei autistische Kinder, die müssen während des langen Unterrichtstages von 8 Uhr 15 bis 15 Uhr 45 zur Ruhe zu kommen. Sonst neigen sie mitunter zu epileptischen Anfällen. Wir haben aber keinen Raum dafür. Die Kinder befinden sich dann draußen auf dem Flur.
Herr Pagenkopf, wenn Sie hier an der Voltaire-Schule Schüler betreuen, denken Sie dann manchmal, die wären an einer Förderschule besser aufgehoben?
Pagenkopf: Der Punkt ist der: In der UN-Behindertenkonvention im Artikel 24 steht ganz klar: Jeder Mensch mit Behinderung hat das Recht auf integrative Beschulung. Aber es ist keine Pflicht. Ich habe das Recht, am Wochenende wählen zu gehen, aber ich kann nicht dazu gezwungen werden. Das heißt, die Eltern und das Kind müssen die Möglichkeit haben zu entscheiden, ob es in einer Förderschule oder in einer Integrationsschule unterrichtet wird. Die Eltern müssen selbst abwägen, welche Einrichtung für ihr Kind die besseren schulischen Möglichkeiten bietet.
Frau Pölk, zu Ihnen schicken die Eltern aber doch bewusst ihre Kinder, oder?
Pölk: Nein, nicht immer bewusst. Wir haben Kinder, die sind uns von der sonderpädagogischen Beratungsstelle und dem Schulamt zugeteilt worden und die Kinder wollten gar nicht hierherkommen. Die Eltern wollten eher eine kleine Schule. Uns läuft zum Beispiel ein Kind ständig während des laufenden Unterrichts davon – trotz intensiver Bemühungen und Hinterherlaufens unserer Fachlehrer ist er dann einfach für den Rest des Tages verschwunden und wir müssen die Eltern benachrichtigen. Einen Einzelfallhelfer hat er leider nicht. Ein anderer Schüler mit einer ähnlichen Problematik ist jetzt in der Oase, einem Projekt für Schulverweigerer, untergebracht. Für die Eltern muss es deswegen unbedingt weiter die Wahlfreiheit geben.
Es wird aber wohl keinen Weg zurück zu Förderschulen für verhaltensauffällige oder lernschwache Kinder geben. Gibt es denn Beispiele, wo an Ihrer Schule Inklusion schon gelungen ist?
Pölk: Wir finden es toll, dass es Inklusion gibt – wenn es auf Basis der Freiwilligkeit ist. Die Schule hat vor vielen Jahren mal zwei autistische Zwillinge beschult. Sie sprachen nicht, sie schrieben auch nicht, die Hand musste ihnen zum Schreiben geführt werden. Sie waren völlig in ihrer Welt. Diese zwei haben hier ihr Abitur gemacht und studieren jetzt. Es gibt durchaus positive Beispiele.
Pagenkopf: Es gibt solche Fälle. Aber alle Schulen, die vom Land als Leuchtturmschulen gezeigt werden, wie das Paradebeispiel Birkenwerder, haben sich vor Jahrzehnten auf den Weg gemacht – und zwar von unten. Das sind keine Schulen, die das von oben oktroyiert bekommen haben. Inklusion hat sehr viel mit Geisteshaltung zu tun, mit Einstellung. Da gehört ein bestimmtes Menschenbild dazu. Das muss sich entwickeln.
Stellen Sie sich vor, in zehn Jahren ist Inklusion selbstverständlich. Wie sieht das an Ihrer Schule aus?
Pagenkopf: Für mich ist der Zeitraum von zehn Jahren utopisch. Wir feiern in diesem Jahr 25 Jahre Mauerfall. Wir haben aber immer noch neu erlassene Bundesgesetze, die unterschieden werden zwischen Ost- und Westlohn. Wir reden über einen deutlich längeren Zeitraum. Was meine Utopie wäre: dass sich wirklich das gesamte Schulsystem einmal auf den Kopf stellt. Wir brauchen ein Konzept, in dem jeder pädagogische, methodische und auch rechtliche Sachverhalt neu überdacht werden muss unter der Fragestellung: Wie können wir jedem Kind ein erfolgreiches schulisches Lernen ermöglichen? Ich wäre schon froh, wenn ich in zehn Jahren – und dieser Zeitraum ist durchaus realistisch – ein Schulbuch hätte, das für mein Fach Physik den Förderschwerpunkt Lernen bis Gymnasium integriert.
Pölk: Was du ansprichst, ist wirklich der Traum einer Gemeinschaftsschule. Mein Traum geht dahin, dass es wirklich einen Paradigmenwechsel in der gesamten Bildungslandschaft gibt. Mit diesen unflexiblen Rahmenbedingungen kommen wir nur sehr schwer voran.
Das Gespräch führte Grit Weirauch
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: