
© Manfred Thomas
Von Heike Kampe: „Das habe ich vergessen“
Mit Unterstützung führen demente Menschen in einer Wohngemeinschaft ein eigenständiges Leben
Stand:
„WG“ steht in Großbuchstaben auf dem Klingelschild. Ein Kranz schmückt die Eingangstür im Dachgeschoss. Dahinter erstreckt sich ein langer Flur, rechts und links davon liegen die Zimmer der acht Bewohner. Gerd Böhm ist mit seinen 60 Jahren der Jüngste von ihnen, Lydia Stehwin die Älteste. Sie wird bald ihren 98. Geburtstag feiern. Doch nicht nur das hohe Alter haben die Bewohner dieser Wohngemeinschaft in Babelsberg gemeinsam. Die sechs Frauen und zwei Männer leiden an einer Krankheit, die sie mit 1,3 Millionen Menschen in Deutschland teilen: Demenz.
Im Wohnzimmer wird gerade der Abendbrottisch gedeckt, auf dem ein üppiger Strauß Rosen steht. Eva Hütter stellt Porzellangeschirr auf jeden Platz, Waltraud Lamla schneidet Zwiebelringe in der offenen Küche. Pfleger Steffen Kansy, einer der Mitarbeiter des Ambulanten Pflegedienstes der Volkssolidarität, der die Bewohner rund um die Uhr begleitet, hilft bei der Zubereitung des Essens. „In den normalen Pflegeheimen wird den Bewohnern das Essenmachen und Tischdecken abgenommen“, erklärt Birgitta Neumann, Angehörigensprecherin der Demenz-WG. Ihr Vater, Hans-Georg Neumann, hat es sich mit einer Zeitung im Sessel gemütlich gemacht. „Auch wenn man alt und pflegebedürftig ist und an Demenz leidet, hat man immer noch Kompetenzen“ so Neumann. Dass diese Kompetenzen erkannt, unterstützt und gefördert würden, sei für Demenzkranke sehr wichtig. „Das gibt Orientierung und Sicherheit“.
Seit einem Jahr teilen die Bewohner der Demenz-WG ihren Lebensalltag miteinander. Doch bevor es soweit war und im Oktober 2009 der Einzug in die neue Umgebung gefeiert werden konnte, vergingen zwei Jahre der Vorbereitung. Eine geeignete Wohnung musste gefunden, viel Organisationsarbeit geleistet werden. Die Initiative ging dabei von den Angehörigen der Pflegebedürftigen aus, die sich für ihre Verwandten eine besondere Art der Betreuung wünschten und den Verein „Leben wie ich bin e.V.“ gründeten. „Im Pflegeheim kommen Demenzkranke oft zu kurz“, erklärt Birgitta Neumann. Die Routine im Tagesablauf eines Heimes führe dazu, dass für die Bedürfnisse dementer Patienten häufig nicht genug Raum bleibe. Mit der Unterstützung eines Pflegedienstes sollte es doch möglich sein, den Alltag ihrer dementen Angehörigen in einer häuslichen Umgebung und so normal wie möglich zu gestalten, so die Grundidee. „Wir wollen, dass die Menschen nicht nur verwahrt werden, sondern die Möglichkeit erhalten, einen guten Alltag zu erleben, trotz Demenz“, erklärt Birgitta Neumann.
Während der Leberkäse in der Pfanne brutzelt und Tomaten und Paprika geschnitten werden, haben es sich drei Damen auf dem Sofa bequem gemacht. „Wie war gleich noch ihr Vorname?“, fragt Birgitta Neumann Frau Straube-Koberstein. Nach kurzem Zögern sagt diese „Das habe ich vergessen“. Auch ihrer Nachbarin Margot Henke fällt nicht ein, wie der Vorname ihrer Mitbewohnerin lautet. Doch schließlich ist der Name wiedergefunden: Thea. Thea Straube-Koberstein lächelt.
„Das ist aber ein schöner Blumenstrauß“, freut sich Joanna Ebener über die Rosen, als alle am Tisch Platz nehmen. Pflegerin Manuela Gläser und Pfleger Steffen Kansy setzen sich ebenfalls zum Essen. Denn auch die Pflegekräfte gehören zum Alltag der Demenz-WG und nehmen alle Mahlzeiten gemeinsam mit den Bewohnern ein. „In der WG herrscht eine ganz andere Atmosphäre als auf einer Station“, erzählt Steffen Kansy. Der Umgang miteinander sei sehr persönlich, er könne viel individueller auf seine Patienten eingehen. Manuela Gläser und Steffen Kansy begleiten die Demenz-WG schon von Anfang an. Sie kennen ihre Patienten sehr genau, sind über Vorlieben, Abneigungen und die Lebensgeschichte informiert. Von den Angehörigen haben sie ausführliche Biographien jedes Einzelnen bekommen. Sie wissen, dass Johanna Stehwin die ständige Vergewisserung braucht, dass ihr Sohn weiß, wo sie sich aufhält und dass Hans-Georg Neumann stets sein Portemonnaie bei sich tragen muss. „Wir sind zur Unterstützung hier“, erklärt Steffen Kansy.
„Es ist sehr beruhigend, den Vater so gut aufgehoben zu wissen“, sagt Birgitta Neumann. Sie selbst und die anderen Angehörigen der dementen Bewohner trügen mehr Verantwortung als in einem Pflegeheim, hätten mehr Entscheidungsfreiheit und Mitspracherecht. Jedoch komme manchmal die Kommunikation zwischen ihnen und den Pflegenden zu kurz. „Wir würden uns wünschen, eine ehrenamtliche Moderatorin oder einen Moderator zu haben, der in Rente ist und ein- bis zweimal die Woche Zeit hat, zwischen uns als Angehörigen und dem Pflegedienst zu vermitteln“.
Das Leben in einer Demenz-WG hat als Alternative zur Betreuung in Seniorenpflegeheimen Zukunft – davon ist Birgitta Neumann überzeugt. Im Jahr 2050 wird sich die Zahl demenzkranker Menschen auf 2,6 Millionen verdoppelt haben.
Kontakt: Leben-wie-ich-bin@gmx.de, Telefon: 0331-704 37 47
Heike Kampe
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