Rund 800-mal am Tag berührt der Mensch sich unbewusst selbst. Meist im Gesicht. Warum wir das machen, wollte Martin Grunwald vom Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung an der Uni Leipzig wissen. Er verkabelte Probanden mit EEG-Geräten und beobachtet die Gehirnströme. Das Resultat war überraschend. Kurz vor der Berührung gibt es Veränderungen im Beta- und Theta-Bereich der Hirnströme. Ergebnis: Die Selbstberührung erfolgt auf eine hohe emotionale Beanspruchung hin – etwa Stress – oder wenn das Kurzeitgedächtnis einem Kollaps nahe ist. Sozusagen als Setup, danach laufen die Systeme wieder normal.
Das Einstein Forum hatte Grunwald eingeladen, um ein Symposium zum Tastsinn mit der nötigen naturwissenschaftlichen Expertise zu untersetzen. Was vollauf gelang. Der Wissenschaftler, der in Leipzig ein Forschungslabor zur Haptik betreibt, stellte klar, dass der Tastsinn das wichtigste Sensorsystem des Menschen ist. Ohne ihn kann der Mensch – im Gegensatz zur optischen und akustischen Wahrnehmung – nicht leben. Mithilfe des Tastsinns klärt er, wo die Innenwelt endet und die Außenwelt beginnt. Unabdingbar für alle Lebewesen, die Masse haben und zum Kontakt mit der äußeren Welt verdammt sind. Taktile Wahrnehmung nennt man die Berührung von außen, haptische Wahrnehmung, wenn man selbst etwas berührt.
Der Mensch hat zwei Billionen Nervenenden in der Körperhaut, der haptische Schwellenwert, an dem man etwas ertasten kann, liegt bei einem Mikrometer. Zum Vergleich: Das Auge erkennt Dinge erst ab rund 85 Mikrometern. Wie wichtig dieses umfassende und extrem empfindliche System ist, erklärte Grunwald anhand der Magersucht. Bei dieser Erkrankung, die in zehn bis 15 Prozent tödlich endet, empfinden sich die stark abgemagerten Patienten als übermäßig dick. Erstaunlicherweise auch, wenn sie ihre knochige Statur im Spiegel sehen. Grunwald vermutet dafür weniger gesellschaftliche Ursachen als pathologische. Seine Hypothese: Es besteht eine Störung in der rechten Gehirnhälfte. Ursache dafür könnte mangelnder Körperkontakt in der frühen Kindheit sein, denn dies sei für die Ausbildung der eigenen Körperwahrnehmung offensichtlich grundlegend. Dass Magersucht so häufig Frauen treffe, habe zusätzliche hormonelle Ursachen. Die einzige effektive Therapieform sieht der Neurobiologe in einer Reiztherapie bei Bewegung. Da Berührung der übersensiblen Patienten nicht möglich sei, hat sein Labor einen Neoprenanzug entwickelt, der die Reize auf die Haut aufbringt. Regelmäßig getragen würden die Gehirnregionen aktiviert, die für die eigene Körperwahrnehmung zuständig sind. Grunwalds Ansatz ist neu, er deckt sich kaum mit bisherigen Erklärungen und Therapieformen der Magersucht. Diese stark klinische Sicht auf die Erkrankung wollte die Direktorin des Einstein Forums, Susan Neiman, so nicht stehen lassen, denn die gesellschaftlichen Ursachen dürften nicht ignoriert werden.
Als Haptik-Forscher konnte Grunewald auch einiges darüber sagen, warum ein bestimmtes Design Erfolg hat – oder eben nicht. Etwa die bekannte Flasche eines traditionsreichen deutschen Mundwassers. Sie habe allein durch ihre Form und ihr Gewicht eine unverwechselbare Haptik. Das ist wichtiger als man denkt. Grunwald hat mit Kollegen untersucht, warum eine Body-Lotion-Flasche nicht gekauft wird: Weil sie bei der Benutzung durch ölige Finger glitschig wird – was niemand mag.
Und Grunwald kann erklären, warum eine koreanische Smartphone-Marke in seinen Untersuchungen besser abgeschnitten hat als das iPhone: Weil die koreanischen Geräte nicht glatt und kantig sind und bei Berührung durch Vibration ein haptisches Gefühl vermitteln. Grunwald hält auch nicht viel von Tablet-Computern. Das Wischen auf den Bildschirmen würde nicht der natürlichen Erfahrung entsprechen, wonach sich die Dinge verändern, wenn man mit Druck auf sie einwirkt. Für ihn sei die Frage völlig offen, was aus Kindern wird, die ihre Lebenszeit mit Touchpads „verdünnen“. Allerdings sieht er Tablets und Smartphones ohnehin nur als Übergangsmedium. Mittlerweile würden bereits Bildschirme mit anderer Haptik entwickelt. Jan Kixmüller
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