MEINE Woche: Das Land der Träume
Ich sitze in einem Klassenraum im US-Bundesstaat Georgia. Rechts von mir wird ein Mädchen der 9.
Stand:
Ich sitze in einem Klassenraum im US-Bundesstaat Georgia. Rechts von mir wird ein Mädchen der 9. Klasse gefragt, wie ein Kanadier US-Bürger werden könne. Das Mädchen antwortet: „Ist Kanada nicht US-Gebiet?“ Hiernach nimmt es mir hoffentlich niemand übel, wenn ich diesen ersten Bericht meines einjährigen Schüleraustauschs damit beginne, meine Wahlheimat auf die ihr zugeschriebenen Vorurteile zu reduzieren.
Was man sieht, wenn man aus dem Haus geht: Amerika ist fett. Morgens spricht der patriotische US-Bürger mit vollem Mund und der Hand auf dem Herzen die Pledge of Allegiance. Gegessen hat er Pfannkuchen mit Sirup oder Speck oder beides zusammen. Für das Essen gibt es hier keine Regeln, ähnlich wie für die Vornamen: Ob Hühnchen und frittierte Zimtäpfel oder ein Mädchen namens Aaron. Das Wort „konservativ“ ist für den Süden der Vereinigten Staaten viel zu banal. Da die Reinheit einer jeden Seele (kein Sex für Unverheiratete) unbedingt zu gewährleisten ist, sind Date-Beziehungen nach spätestens sechs Monaten zu beenden. Außerdem gelten Katholiken hier unten nicht als Christen. Nein, sie sind seltsame, im Vergleich zu den Baptisten emotionslose Geschöpfe.
Wer in der Schule ungefragt seine Meinung kundtut, wird suspendiert und darf drei Tage lang Sätze schreiben. Amerika, ein Land der Möglichkeiten? Als ich im Juli in New York ankam, wurde ich nicht, wie ich erwartet hatte, desillusioniert: Die Stadt war genauso lebendig, bunt und atemlos, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Aber spätestens nach den ersten paar Schultagen wurde mir klar, dass Amerika nicht ist, wie New York und Miami vorgeben. Amerika ist ein Lügner!
In Deutschland hören wir von Martin Luther King, hier denken die Menschen nicht bloß in schwarz und weiß, sondern auch noch in hispanic. Während wir an den Brokeback Mountain denken, ist Homosexualität hier unten nach wie vor eine heilbare Krankheit.
Und obwohl ich meine Meinung von den USA in den zwei Monaten hier revidieren musste, muss ich doch zugeben, dass Amerika dennoch eins bleibt: Das Land der Träume. Was auch immer ein Mensch sucht, findet er hier. Ich war auf der Suche nach der Wahrheit über Amerika, Deutschland, die Welt und mich selbst und all das habe ich gefunden und finde ich immer noch.
Johanna Rothmann ist 15 Jahre alt. Sie ist zum Schüleraustausch für ein Jahr in den USA und berichtet hier in unregelmäßigen Abständen.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: