zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Das passiert jede Woche

Der 16-jährige Henrik Baumgarten besuchte die Potsdamer Fachtagung zum Thema Jugendgewalt

Stand:

Henrik Baumgarten hat Gewalt schon erlebt. „Das passiert doch in Potsdam fast jede Woche“, glaubt der 16-Jährige. Und meint damit Schläge, die nicht in der Polizeistatistik auftauchen, weil niemand die Beamten ruft – etwa aus Angst oder Misstrauen. „Besonders nachts habe ich schon Prügeleien und Rumgeschubse gesehen“, erzählt Henrik. Er nennt Orte, wo er so etwas erlebt oder davon gehört hat: Im Waschhaus in der Schiffbauergasse, vorm Quartier in der Carlottenstraße, im Hof des Archivs in der Leipziger Straße. „Jugendgewalt ist ein akutes Problem“, schätzt der Gymnasiast ein.

Als einer von nur wenigen Jugendlichen erlebte er diese Woche am Dienstag mit, wie Politik, Verwaltung, Polizei und Sozialarbeiter über Gewaltkriminalität reden: Im Stadthaus fand eine ganztägige Fachtagung zu dem Thema statt (PNN berichteten). Henrik konnte nur mit Erlaubnis seiner Schülerpraktikumsstelle hingehen. Sein Fazit: Die Vorträge seien interessant gewesen, von den Ergebnissen hätte er sich allerdings mehr erwartet.

Bei der Konferenz sollten Arbeitsgruppen Maßnahmen gegen Jugendgewalt erarbeiten, die bis April von der Stadtverwaltung zu einem Konzept ausgearbeitet werden. Solche Handlungsanweisungen haben die Stadtverordneten im vergangenen Sommer nach dem Angriff auf den Deutsch-Äthiopier Ermyas M. und dem tödlichen Messerstich gegen den 20-jährigen Potsdamer David Fischer gefordert.

Allerdings zeigt die Statistik kein besonders auffälliges Jugendgewaltproblem in der Stadt: 499 Gewaltdelikte wurden 2005 im Schutzbereich Potsdam registriert, weniger als ein Zehntel aller Fälle in Brandenburg. Für 2006 erscheinen die Zahlen erst in diesem Monat. 2005 waren 45,9 Prozent der Täter in Potsdam unter 21 Jahren alt, 40 Prozent der Opfer ebenfalls. Häufiger sind junge Leute allerdings bei Rauschgiftkriminalität (55 Prozent) und Fahrraddiebstählen (70 Prozent) beteiligt. Allerdings sagen Experten wie der Leiter des Jugendkommissariats in Potsdam, Karl Schlegel, dass die Aggressivität bei den Auseinandersetzungen generell zugenommen habe: „Wenn heute einer am Boden liegt, wird weiter getreten – früher gab es dies nicht so häufig.“ Wichtig sei auch die besondere Rolle von Mädchen: „Mein Eindruck ist, dass Mädchen vermehrt anstiften und die Jungs zum Prügeln vorschicken.“

Worin diese Aggressivität bei Jugendlichen begründet ist, darüber ist sich Henrik Baumgarten wie auch viele Experten nicht ganz sicher. Er spricht von einem „grundsätzlichen gesellschaftlichen Problem“. Das Zuhause sei wohl ein wichtiger Erklärungsfaktor: „Es gibt eben Eltern, die sich kümmern, die ihren Kindern Bücher geben und Werte vermitteln – und es gibt welche, die das nicht tun.“ Interessant fand er bei der Konferenz zwei Vorträge über die Entstehung von Gewalt. So erklärte der aus der Schweiz stammende Trauma-Forscher Horst Kraemer die Gewalt in Potsdam auch aus den Erfahrungen mit der Wende, die durch die Erschütterung des vorhandenen Weltbilds eine „neuronale Ausnahmesituation“ geschaffen habe, die weiter fortwirke. Ganze Gesellschaftsgruppen hätten sich als Verlierer gesehen und würden dies weiter an ihre Kinder vermitteln. Aus psychologischer Sicht betonte Monika Kanthack, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Landesklinik Brandenburg, die wichtige Rolle der klassischen Familie: „Fehlt beispielsweise der Vater in der Pubertät, gibt es niemand der in dieser Zeit seine Rolle als Puffer wahrnimmt.“

Deswegen möchte die Stadt in ihrem Handlungskonzept zeigen, wie beispielsweise Familien mehr Hilfen bekommen könne. Ebenso soll die Polizei besser geschult, der Opferschutz ausgebaut werden. Auch die Schulen sollen mehr zur Gewaltprävention beitragen. Doch Henrik Baumgarten reicht das nicht. Ohne Vorbeugung würde zwar vieles noch schlimmer sein, denkt er. Doch ob dabei solche Tagungen helfen können, da gibt er sich skeptisch: „Gewalt gibt es nun einmal, das ist die traurige Wahrheit.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })