Landeshauptstadt: Das Schweigen der Opfer brechen
Annelie Dunand über sexuellen Missbrauch an Jugendlichen – und wie Freunde damit umgehen können
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Annelie Dunand, sie sind Leiterin des Sozial-Therapeutischen Instituts Berlin-Brandenburg (Stibb e.V.) in Kleinmachnow und haben jüngst bei einer Fachtagung zu sexueller Gewalt an Jugendlichen in Potsdam referiert. Eine Frage, die sich Jugendliche bei dem Thema immer stellen: Wie können Jungen und Mädchen merken, dass jemand in ihrem Umfeld von sexueller Gewalt betroffen ist?
Sexuelle Gewalt passiert im Geheimen und ist nicht erkennbar. Die Täter verpflichten ihre Opfer zum Schweigen und bedrohen sie. Neue Forschungen zeigen zudem, dass die Täter das soziale Umfeld ihrer Opfer beeinflussen, damit die Betroffenen noch mehr Angst bekommen, dass ihnen wohlmöglich niemand glaubt. Auch ist es so, dass die Missbraucher ihren jungen Opfern suggerieren, sie seien selbst Schuld, wenn ihr Peiniger plötzlich sein anderes Gesicht zeigt. So kann mancher Missbrauchsfall jahrelang dauern. Die Macht der Täter ist das Schweigen ihrer Opfer.
Doch gibt es wenigstens verborgene Signale, die Betroffene von sexueller Gewalt aussenden, wenn sie nicht über ihr Leid sprechen können und wollen?
Natürlich entwickeln Kinder und Jugendliche bestimmte Verhaltensauffälligkeiten, wenn sie keinen Ausweg mehr sehen. Manche ziehen sich zurück, andere werden aggressiv. Und sie versuchen Signale auszusenden, um auf ihr Problem angesprochen zu werden und so das Schweigetabu nicht selbst brechen zu müssen. Allerdings sind diese Signale oft zu verschlüsselt und lassen sich nur schwer interpretieren. Deshalb sollten junge Leute, wenn sich Freunde plötzlich irritierend verhalten, ihnen vertrauen und zeigen, dass sie bereit sind zu helfen – damit das Opfer Vertrauen fassen kann.
Was sollen junge Leute beachten, wenn ihre Freunde oder Bekannten über ihre Erlebnisse zu berichten beginnen?
Sie müssen dem zuhören, was das Opfer erzählen will. Sie sollten es danach aber nicht zu weiteren Schilderungen drängen. Außerdem sollten sie unbedingt der Freundin oder dem Freund glauben und dann versuchen, eine Lösung zu finden oder einfach zu helfen. Ein Beispiel dafür kann sein, gemeinsam eine Fachstelle gegen Missbrauch zu besuchen, um so Expertenhilfe zu bekommen. Auf keinen Fall sollte etwas ohne Wissen des Opfers passieren – etwa die Polizei zu informieren. Das klingt vielleicht paradox: Aber so eine Anzeige und die folgenden Verhöre sowie ein möglicher Gerichtsprozess sind für Opfer von sexueller Gewalt schwer zu verkraften, weil sie sicher sein müssen, dass sie stets vor weiteren Angriffen geschützt sind. Wichtig ist auch, dass die in den Missbrauch eingeweihten Jugendlichen sich fragen, ob sie wegen dem auch für sie dramatischen Erlebnis nicht ebenfalls psychologische Betreuung benötigen.
Gesetzt den Fall, ein von sexueller Gewalt betroffenes Kind oder Jugendlicher findet nun aber niemand, dem er oder sie sich anvertrauen möchte. Was dann?
Sie sollten auf keinen Fall aufgeben und sich in sich selbst zurückziehen. Denn beispielsweise gibt es anonyme Beratungsstellen oder bundesweite Notruftelefone für Betroffene sexueller Gewalt. Kinder und Jugendliche wissen oft nicht, dass sie in solch einer Situation ein unbedingtes Recht auf Unterstützung besitzen. Sie dürfen nicht schweigen, müssen Mut fassen und sollten Hilfsangebote annehmen.
Sind Mädchen eigentlich öfter als Jungen betroffen?
Ja, da werden mehr Fälle bekannt. Aber es gibt auch eine steigende Zahl von Fällen mit Jungen als Opfer. Jedoch ist die Polizeistatistik nur die Spitze des Eisbergs, weil nicht jeder Fall angezeigt wird.
Das Interview führte Henri Kramer
Im Internet:
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