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Landeshauptstadt: Das Schweigen im Forst

Selbst die Vögel suchten das Weite: Die Sprengmeister Ralf Kirschnick und Tore Fabig haben gestern in Waldstadt zwei amerikanische Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft – um sie herum stand das Leben still

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Teltower Vorstadt/Waldstadt - Als es an den Zünder ging, wurde es still um Ralf Kirschnick, Tore Fabig und die 250 Kilogramm schwere Fliegerbombe im Potsdamer Wald. „Es war herrlich ruhig, wie auf einer einsamen Insel“, erzählt Kirschnick und streicht sich mit seinen Händen über die stoppelige Glatze auf seinem Kopf. „Die Viecher wissen, da ist etwas nicht wie sonst in ihrem Revier.“ Schon oft konnten der 45-jährige Sprengmeister und sein Kollege das tierische Phänomen bei ihren Einsätzen beobachten: Am Wasser suchen Schwäne das Weite, an Viehweiden drehen sich Kühe oder Schafe weg und im Wald fliegen die Vögel davon, wenn die Experten mit der Arbeit beginnen. „Als wir anfingen, war hier kein einziger Vogel mehr zu hören“, erzählt Kirschnick – und es blieb ruhig.

Im Potsdamer Forst, zwischen der „Siedlung Eigenheim“ und der Michendorfer Chaussee, sind am gestrigen Dienstagvormittag zwei 250 Kilogramm schwere amerikanische Fliegerbomben aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft worden. Die Blindgänger wurden vergangene Woche bei der systematischen Munitionssuche in dem Waldstück gefunden. Beide Bomben sind stark verrostet, sie galten als nicht mehr transportfähig. Die Entschärfung musste vor Ort geschehen. Bis acht Uhr am Morgen waren deshalb rund 3000 Anwohner aufgerufen, ihre Häuser und Wohnungen im Sperrkreis von 800 Metern zu verlassen.

Bettlägerige und gehbehinderte Personen wurden von Hilfskräften abgeholt und ins Klinikum „Ernst von Bergmann“ bzw. in die Aula des nahen Humboldt-Gymnasiums gebracht und dort betreut. Zwei Kindergärten befanden sich im Sperrkreis, sie blieben geschlossen. Die Heinrich-Mann-Allee war für den Verkehr gesperrt, der Straßenbahnverkehr wurde ausgesetzt. Erst um 12 Uhr gab es Entwarnung, die Bomben wurden sicher entschärft, der Verkehr wieder freigegeben und die Anwohner durften zurück in ihre Häuser und Wohnungen.

Für Barbara Reiss ging damit wieder einmal ein ungewöhnlicher Arbeitstag zu Ende: Die Potsdamer Ordnungsamtsmitarbeiterin gehört zu den „alten Eisen“ in der Stadtverwaltung – etwa 50 Evakuierungen hat sie in der Stadt begleitet, zuletzt am 5. Juli, als im gleichen Potsdamer Waldgebiet eine Fliegerbombe entschärft werden musste. Gestern hieß es für Reiss und 174 weitere Mitarbeiter der Stadtverwaltung sowie 20 Feuerwehrleute und 42 Polizisten erneut: Antreten!

„Eine Minute, keine Minute, raus!“, erklärt Reiss ihre Devise als die Sonne am Morgen gerade über das Dach der Sporthalle an der Heinrich-Mann-Allee ragt. Als sich der Helfertross in Bewegung setzt, achtet Reiss penibel darauf, dass auch die letzten ahnungslosen Anwohner den Sperrkreis verlassen. Sie und ihr Trupp klingeln an jeder Haustür. Die wortgewaltige Blondine kennt die Tricks einiger Potsdamer, die aller Aufforderung zum Trotz den Sperrkreis nicht verlassen wollen. Wenn die Gardinen wackeln, aber sich keine Tür öffnet, kommt die Polizei und der Schlüsseldienst zum Einsatz, sagt Reiss. „Das kam schon manchmal vor.“ Wenn sich aber jemand tot stellt ? „Dann können wir auch nichts machen, das ist dann deren Risiko“, sagt Reiss, ehe sie einer jungen Mutter auf ihrem Fahrrad skeptisch hinterherblickt. „Ein bisschen spät, ne?“, sagt Reiss. Es ist kurz nach acht. „Da war der Kaffee wohl noch zu heiß“, brummt sie. Derweil hatte es sich Werner Wachow an der Heinrich-Mann-Allee schon auf einem Gartenstuhl gemütlich gemacht. Der Rentner sitzt hier in Sichtweite seines Hauses, es steht auf der anderen Straßenseite. Dort beginnt die Sperrzone. „Ich hab die Bomben damals im Zweiten Weltkrieg noch fallen hören“, erzählt Wachow und zeigt in Richtung Wald. „Das hat ganz schön geknallt.“

Im Zweiten Weltkrieg gingen unzählige Fliegerbomben auf Potsdam nieder. Viele sind nicht explodiert und schlummern seit dem als Blindgänger im Boden. Von 1990 bis heute wurden in Potsdam 131 Bomben gefunden. Seit 2006 wird systematisch nach ihnen gesucht, in regelmäßigen Abständen werden nun auch große Blindgänger von 250 oder 500 Kilogramm geborgen. In den vergangenen Monaten beispielsweise auf einem Schulhof in Zentrum-Ost sowie in der Nuthe, davor auch auf dem Gelände des Klinikums und eben auch im Forst nahe der Waldstadt.

Seit Mitte Mai sind Fachkräfte hier im Einsatz, um das 30 Hektar großes Waldstück abzusuchen. Sie durchleuchten jeden Quadratmeter des Waldbodens mit einem Metalldetektor. Horst Reinhardt vom Kampfmittelbeseitigungsdienst vermutet unter dem Holz einen „Bombenteppich“. Manch ein Blindgänger liege „nicht tiefer als 50 Zentimeter im Boden“. Daher habe man dem Forst die Auflage erteilt, das Naherholungsgebiet systematisch absuchen zu lassen. Das dauert, erst weniger als die Hälfte des gesamten Waldgebietes ist durchsucht.

Als die Vögel im Potsdamer Forst verstimmen und sich Sprengmeister Ralf Kirschnick um kurz nach 10 Uhr an die Arbeit macht, hat Helga Illie in der Notunterkunft am Humboldt-Gymnasium schon ihren ersten Socken gestrickt. „Der ist für die Enkelin“, sagt sie. Gemeinsam mit ihren Nachbarinnen sitzt die 87-Jährige hier in der Aula. Die Rentnerinnen genießen die Gespräche, den Kaffee und die Schmalzstullen. „Wir wollen ja schließlich nicht in die Luft gehen“, sagt Illie und nimmt die nächste Masche auf. „Ich bleibe hier, bis es Erbsensuppe gibt.“

Nach einer Stunde hat Sprengmeister Kirschnick die erste Bombe entschärft, nach 25 weiteren Minuten ist auch die zweite Bombe gesichert. Gerade mal 50 bzw. 40 Zentimeter lagen sie unter dem Boden. „Das ist nicht viel“, sagt Kirschnick nachdem die Männer die Bombe im neuen Einsatzfahrzeug festgezurrt haben. „Das war eine normale Bombenentschärfung nichts Besonderes, das ist unser Job.“

Wie gefährlich der Job aber sein kann, hat erst kürzlich ein Unfall gezeigt. Manuel Kunzendorf, der in der Region knapp 600 Blindgänger unschädlich gemacht hat, ist bei einem Arbeitsunfall schwer verletzt worden. Die Ärzte versuchen seine linke Hand zu retten, heute steht eine weitere Operation an. Noch immer untersucht die Staatsanwaltschaft den Vorfall vom 15. Juni in einem Munitionsbunker in Priort bei Wustermark.

Sprengmeister Kirschnick wird nicht gern auf den Unfall des Kollegen angesprochen. „Das ist Berufsrisiko“, sagt er ohne eine Miene zu verziehen. Dann nimmt er von Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) eine süße „Gummibärchenbombe“ entgegen. „Vielleicht sehen wir uns in ein, zwei Wochen hier wieder“, sagt Kirschnick und schüttelt dem Politiker die Hand. „Das ist nicht ausgeschlossen“, sagt Jakobs. Und in der Ferne beginnen einige Vögel zu zwitschern.

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