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Homepage: Das vage Versprechen der Liebe

Die Jahreskonferenz des Einstein Forums kam vom menschlichen Charakter zur modernen Bindungsangst

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Das Einstein Forum nimmt seine Jahreskonferenz mit Sportsgeist. Man zeigt Flagge am Neuen Markt. Einmal im Jahr kommt der wissenschaftliche Beirat im Caputher Einsteinhaus zusammen. Gleichzeitig veranstalten die Wissenschaftler eine internationale Tagung in Potsdam. „The future of character“ lautete das diesjährige Thema. Direktorin Susan Neiman hatte ihren Studienaufenthalt in Princeton eigens dafür unterbrochen. Ein gut gelaunter Hans Magnus Enzensberger mischte sich am Freitag unter das Publikum. Und mit dem Soziologen Zygmunt Bauman war ein renommierter Sprecher für den Abendvortrag angekündigt. Susan Neiman verzichtete auf lange Einleitungen. Eine Gepflogenheit aus den USA, wie sie sagte.

Prof. Eva Illouz aus Jerusalem glückte eine glänzende Eröffnung. Für das Kernproblem der Tagung, ob der feste Charakter des Menschen heute noch gefragt sei, hatte sie ein besonderes Beispiel: die Liebe. Wer es mit der Liebe ernst meine, mache ein Versprechen. Das Versprechen, seine Entscheidung nicht einfach zu revidieren. Charakter zu zeigen heiße, sich nicht in der Fülle der Möglichkeiten zu verlieren. Wer sich selbst kennt, schloss Illouz im Anschluss an die Schriftstellerin Jane Austen, der habe in der Liebe Erfolg.

Doch was in Romanen des 19. Jahrhunderts denkbar war, löst heute Unwohlsein aus: In Talkshows, aber vor allem im Internet, kehren die Menschen ihr Inneres nach Außen. Und kommen ins Zweifeln. Eva Illouz zeigte Fragen, mit denen ein Internet-Psychologe namens Jeff konfrontiert wird. Das einmalige Versprechen der Liebe scheint heute besonders Männer zu beunruhigen. „Kann ich die Bindung verantworten?“, fragen sie. „Bin ich ein böser Mensch, wenn ich sie verlasse?“ In den USA habe das Phänomen den Namen „commitment phobia“, Bindungsangst. Eine gewisse Panik habe die Menschen dort erfasst, meinte Eva Illouz. „Noch nie hatten die Menschen so viele Fragen über ihren eigenen Charakter, wie heute.“

Damit war der Ball ins Rollen gebracht. Die Alternative aus charakterlich begründeter Bindung und Wandlungsfähigkeit wurde zum Grundthema. Selbstverwirklichung habe für viele Menschen heute den höchsten Stellenwert, so Alain Ehrenberg (Paris). Man wolle nicht bei der ersten Entscheidung bleiben. Heute ginge es darum, die beste Option zu verwirklichen. Menschen binden und lösen sich daher häufiger. Ehrenberg sah hier einen Einschnitt im menschlichen Verhalten. Doch wollte er dies nicht als moderne Wankelmütigkeit verstanden wissen. Gerade weil man sich mehrfach binde, wachse die Verantwortung für den anderen Menschen.

Wie Eva Illouz betonte der Pariser Soziologe, dass aus diesem Grund Liebesbeziehungen heute so stark diskutiert werden. Niemand möchte seinen Partner unnötig verletzen. Aber ein fremdbestimmtes Leben gilt als inakzeptabel. „Wir erfinden ständig neue Lebensmodelle“, so Ehrenberg. Die Frage nach den eigenen Überzeugungen stellt sich also mit Nachdruck.

Die ersten Vorträge lösten eine rege Diskussion aus, die im Laufe der Konferenz nicht nachließ. „Das ist ein Riesenthema in der Soziologie“, sagte Prof. Hans-Peter Müller, der mit seinen Studenten aus Berlin angereist war. Psychologen, Philosophen und Soziologen fühlen sich für den modernen Menschen zuständig. In den Pausen unter den Veranstaltern leichte Nervosität: Würde die Spannung bis zum Abendvortrag anhalten? Kommen die Potsdamer an einem Sommerabend zu einem soziologischen Vortrag? Doch die Zugkraft des Themas bestätigte sich. Der 82-jährige Zygmunt Bauman ist ein heftiger und viel gelesener Kritiker unserer Zeit. Die persönlichen Netzwerke im Internet und gegenwärtige Unternehmenspolitik deutete Bauman als Krisensymptome – vor einem vollen Saal.

Verfügbar, benutzerfreundlich und ersetzbar. Wenn diese Eigenschaften auf den Menschen angewendet würden, werde dieser zur Ware. „In Asien findet viel gesellschaftliches Leben im Internet statt“, sagte Bauman. Verbindungen zählen mehr als Bindungen. „Entweder man macht mit, oder man ist draußen.“ Die Freiheit wird zum Zwang. Gleichzeitig würden kapitalistische Ökonomie und menschliche Beziehungen verschmelzen. Die hohen Preise, die Unternehmen für bestehende Internet-Netzwerke zahlen, würden dies verdeutlichen. Dieses Prinzip gelte auch für die Anforderungen von Unternehmen an die Mitarbeiter: „Vollständige Flexibilität, völlige Ungebundenheit und sofortige Einsatzbereitschaft.“ Die Möglichkeit für echte menschliche Bindungen sah Bauman hier schwinden. Liebe, schloss Bauman an diesem Tag die Diskussion ab, laufe all diesen Bedürfnissen zuwider. Doch als ein Zuhörer die Liebe ganz zum Auslaufmodell erklärte, schüttelte Bauman heftig den in Ehren ergrauten Kopf. So weit wollte nicht einmal der kämpferische Soziologe gehen.

Der zweite Tag brachte eine historische Herangehensweise an den Charakter. Matthias Kroß vom Einstein Forum lockte mit seinem anspielungsreichen Vortrag um Sankt Augustinus und „Sankt Wittgenstein“. Heiterkeit im Publikum: Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein wird in akademischen Kreisen der USA fast wie ein Heiliger verehrt. So war die akademische Kultur der USA an beiden Tagen im Einstein Forum stark zu spüren. Schnelle Diskussionen und familiärer Ton lösten unter den Zuhörern jedoch nicht nur Freude aus. Die Wissenschaftler wurden dem Publikum nicht vorgestellt und sprachen sich mit dem Vornamen an. Mancher Besucher meinte, Insider würden sich die Bälle zuspielen. So brauchte man schon einen gefestigten Charakter, wenn man ins Spiel kommen wollte. Und eine Portion Sportsgeist.

Mark Minnes

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