Landeshauptstadt: Den Feinden die Faust
Die Revolution im Jahr 1989 verlief zwar friedlich. Doch die SED-Führung war zum Äußersten entschlossen. Wie die Proteste am 7. Oktober in Potsdam erstickt wurden, folgte einem Muster. Es wurde in Belzig entwickelt
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Die Revolution von 1989 blieb so gewaltfrei, dass sie heute die Friedliche genannt wird. Dass sie so glücklich verlief, war keineswegs selbstverständlich. Denn die Führung der Herrschenden, der SED, war entschlossen, im Ernstfall bis zum Äußersten zu gehen: massenweise Bürger festzunehmen und in Lager einzusperren. Der Bezirk Potsdam spielte bei diesen Planungen eine wichtige Rolle.
Als die Bürger der DDR im Sommer und Herbst immer unzufriedener wurden, waren auch die Potsdamer Funktionäre noch keineswegs auf Dialog orientiert. Laut Akten und Zeitzeugen stimmte der erste Potsdamer Kreissekretär Heinz Vietze damals seine Genossen auf der Parteischule ein: „...wir haben keinesfalls die Absicht, uns in den Klassenkämpfen in den Schützengräben zu verkriechen. In dem Moment, wo der Klassengegner zum offenen Kampf übergeht, diskutiere ich nicht über das Niveau der Schützengrabenzeitung, sondern gehe in den Kampf. Der Gegner hat das Diffamierungswort ,Betonköpfe‘ erdacht. Doch ich sage, lieber ein Betonpfeiler, an dem die Feinde zerbrechen, als eine weiche Birne, die an der Politiknaivität zerschellt.“
An der Basis wurde Stimmung gemacht, während SED-Führung, Innenministerium und Stasi Notfallpläne in der Tasche hatten. Für den Fall, dass Bürger wie am 17. Juni 1953 massenweise protestieren würden, sollte die Polizei mit Massenfestnahmen reagieren. Geübt wurde das ganz konkret auf dem Truppenübungsplatz II des DDR-Innenministeriums in Belzig. Dort befand sich damals eine Geisterstadt mit Häusern, Litfaßsäule und Straßenbahn. Laut Zeitzeugen sollen die Defa-Filmstudios für Polizeiübungen in Belzig sogar einen Nachbau des Brandenburger Tores von Potsdam bereitgestellt haben. In diesen Kulissen wurde ein Teil junger Bereitschaftspolizisten mit Demonstrationsplakaten ausgestattet: Die übrigen sollten sie mit Knüppeln bearbeiten und einen Teil festnehmen.
Auf den umliegenden LPG-Betrieben wurden Polizeifahrzeuge mit Räumschildern ausgerüstet. Diese sollten im Herbst 1989 erstmals zum Einsatz kommen. Solche Polizeistrategien waren offenkundig vom Westen abgekupfert, wo Einsätze wie der „Hamburger Kessel“ 1986 Schlagzeilen gemacht hatten. Ein Teil der Demonstranten sollte eingekesselt und festgenommen werden; ein kleiner Teil von ihnen wäre kriminalisiert worden, die übrigen hätte man nach einigen Tagen mit Ermahnungen oder Ordnungsstrafen wieder entlassen.
Das Tückische an dieser Planung war, dass sie für die gesamte DDR entwickelt wurde. In sorgfältigen Vorarbeiten hatte die Führung des Innenministeriums anhand von Polizei- und Stasi-Analysen das Protestpotenzial für die wichtigsten Orte der DDR ermittelt. Im Prinzip waren die Repressionsorgane in der Lage, überall in der DDR zur gleichen Zeit Bürgerproteste zu bekämpfen. Das erklärt, warum am 40. Jahrestag der DDR, am 7. Oktober 1989, die aufflammenden Bürgerproteste nach dem gleichen Schema erstickt wurden: mit dem Kessel von Belzig.
In Potsdam verlief die Angelegenheit fast nach Plan. Etwa 400 Personen protestierten am 7. Oktober in der Fußgängerzone am Broadway für Reformen in der DDR: „Wir bleiben hier, verändern wollen wir“, lautete ein Slogan. Die Polizei zog auf, das größte Polizeiaufgebot seit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. „Wir mussten das Volksfest (auf der Insel der Freundschaft) schützen“, begründete der damalige Potsdamer Kreischef der SED, Heinz Vietze, den Aufmarsch von Bereitschafts- und Kreispolizei.
Taktisch geschickt spalteten sie den Protestaufzug. Ein Teil ging nach Hause. Der andere Teil der Demonstranten wurde am Nauener Tor und im Café Heider festgenommen, daraufhin in die Polizeiturnhalle an der Tresckowstraße gesteckt.
Nach diesem Muster erstickten die Sicherheitskräfte in Berlin, Arnstadt, Plauen und an anderen Orten die Proteste am gleichen Tag. Diese Strategie war grundsätzlich mit der SED vor Ort abgestimmt. Polizeiführer und Spitzenpolitiker der SED, die im Ernstfall in den Einsatzleitungen der Kreise und Bezirke das Sagen hatten, waren bei Übungen in Belzig eingewiesen worden. Wer in Potsdam am 7. Oktober letztlich die Zustimmung zur Massenfestnahme gab, ist bis heute offen. Die Verantwortlichen schweigen oder haben das Geheimnis mit ins Grab genommen.
Für den Fall, dass es der Polizei nicht gelingen sollte, den Bürgerunmut zu ersticken, und die Herrschaft der SED bedroht war, stand die Stasi bereit. Sie plante heimlich „Isolierungslager“, um kritische Bürger einsperren und „politisch neutralisieren“ zu können. In jedem Bezirk der DDR waren Orte wie Burgen, LPG-Betriebe und Barackenlager für die schnelle Umrüstung als Lager vorbereitet. Die Stasi aktualisierte die Listen mit den Personen, die im Ernstfall zu „isolieren“ waren, regelmäßig. Festnahmen wurden sogar geübt, Personen probeweise festgenommen und „zugeführt“.
Noch im Herbst 1989 wies der Stasi-Bezirkschef Helmut Schickart seinen Potsdamer Stasichef Peter Puchert an, die Listen für Potsdam zu ergänzen: „Insbesondere geht es darum, solche Personen, die sich bei den aktuellen Ereignissen hervorgetan haben (...), mit aufzunehmen. Wir müssen wissen, wo und wie wir sie kurzfristig holen können, wenn es erforderlich ist. Es muss allen ganz deutlich klar sein, dass es jetzt um die Erhaltung der Macht geht.“
Im Bezirk Potsdam sollten 83 Personen sofort in Lager gesperrt werden, insgesamt hätten im Kriegs- oder Spannungsfall fast 2 000 Menschen unter Stasikontrolle gestanden und wären notfalls eingesperrt worden. Zu peinlich, dass die Repressionsorgane der DDR das planten, was 1973 in Chile geschehen war.
Die Pläne für das Potsdamer Isolierungslager sind nicht zufällig verschollen und vernichtet. Alles weist darauf hin, dass es auf dem Truppenübungsplatz von Belzig sein sollte. Geradezu symbolisch, in der Nähe des geografischen Mittelpunktes des DDR, gab es dort mitten im Sperrgebiet in Verlorenwasser ein Barackenlager. Auf Satellitenbildern ist es auch heute noch gut zu erkennen. Es war für Übungen der Bereitschaftspolizei vorbereitet, konnte vergrößert werden und war mit einem doppelten Stacheldrahtzaun besonders gesichert. Zeitzeugen bestätigen das. Die Verantwortlichen, die meist noch zwischen Potsdam und Belzig wohnen, schweigen.
Noch Anfang Oktober 1989 standen die Zeichen auf Repression. Der Potsdamer SED-Chef Günter Jahn agitierte laut Protokoll die Bereitschaftspolizei: „Er sei nicht weiter bereit, auf die Straße zu gehen, um den Dialog zu führen, weil dies nichts einbringt. Er tritt dafür ein, dass die gegenwärtigen Demonstrationen wieder aus der politischen Landschaft verschwinden.“
Der Wendepunkt war der 9. Oktober in Leipzig. In ihren Planspielen waren die Polizeistrategen für die Messestadt von einigen Tausend Demonstranten ausgegangen. An jenem legendären Oktobertag kamen zehnmal soviel, über 70 000. Kluge und verantwortungsbewusste Leute vor Ort vermittelten. Die Polizei kapitulierte. Realisten in den obersten Rängen von Partei, Armee und Polizei hinderten Erich Honecker, eine letzte Amokentscheidung zu fällen. In Potsdam meinte SED-Bezirkschef Jahn resigniert: „Den Feinden die Faust, aber wir können nicht 10 000 zu Feinden erklären.“
Wegen der Stärke der Volksbewegung, der Resignation auch in den Reihen der SED, der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Westen und angesichts einer Führung in Moskau, die auf Dialog statt auf Panzer setzte, schied eine gewaltsame Unterdrückung der DDR-Bevölkerung letztlich aus. Aber es war knapper davor, als das geflügelte Wort von der Friedlichen Revolution suggeriert.
Christian Booß ist Journalist und Historiker. 1999 machte er gemeinsam mit Martin Hahn für das Politikmagazin „Klartext“, damals noch beim ORB, dem heutigen RBB, den gleichnamigen Film „Den Feinden die Faust – Die Wende in Potsdam“. Der Historiker hat zahlreiche Studien zum DDR-Ministerium für Staatssicherheit veröffentlicht, aktuell über die Sammelwut von Stasi-Chef Erich Mielke. Der hat demnach auch kompromittierende Dossiers, teils mit belastenden Informationen aus der Nazi-Zeit, über SED-Spitzenfunktionäre angelegt. Das Buch erscheint in diesen Tagen: Christian Booß / Helmut Müller-Enbergs: Die indiskrete Gesellschaft. Studien zum Denunziationskomplex und zu inoffiziellen Mitarbeitern. Verlag Polizeiwissenschaft Frankfurt (Main) 2014, 268 Seiten, 29,80 Euro.
Christian Booß
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