
© Andreas Klaer
Von Günter Schenke: Der eigene Vater war Stasi-Zuträger
Ein Zeitzeugen-Gespräch in der Gedenkstätte für Opfer politischer Gewalt in der Lindenstraße 54
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Innenstadt - „Mein eigener Vater war auf mich angesetzt“, sagt Andreas Mehlstäubl. Am 1. März 1988 konnte der heute 44-Jährige in die Bundesrepublik ausreisen. Doch bis es soweit war, hatte er die Methoden des Ministeriums für Staatssicherheit und der Justiz der DDR erfahren und ertragen müssen. Der eigene Vater, der sich schon vor seiner Geburt als Mitarbeiter der Staatssicherheit verpflichtet hatte, berichte dieser am nächsten Tag, was sein Sohn zuvor am Abendbrottisch geäußert hatte. Diese Berichte trugen dazu bei, dass Mehlstäubl unter anderem im Stasi-Untersuchungshaftanstalt in der Lindenstraße 54 sitzen musste. „Das war ein dunkles Loch“, berichtet ein Mitgefangener.
Zum Tag der Deutschen Einheit hatte die heute dort eingerichtete „Gedenkstätte für die Opfer politischer Gewalt im 20. Jahrhundert“ unter anderem zu einem Zeitzeugengespräch mit Andreas Mehlstäubl eingeladen. „Die Tatsache, dass es hier kein Gefängnis mehr gibt, ist ein Grund zum Feiern“, sagt eine Mitarbeiterin zum Tag der offenen Tür am Nationalfeiertag.
Der kleine Raum, die Kapelle des einstigen Stadtgefängnisses, war mit ihren zwanzig Stühlen bis auf den letzten Platz gefüllt, als Mehlstäubl über seine Erlebnisse erzählte und sich dem anschließenden „Kreuzverhör“ der Besucher stellte. Die 40-jährige Edith M. aus Köln ist „von der Shopping-Mall in die Gedenkstätte abgebogen“, als sie einen Hinweis auf die Gedenkstätte las. „Entsetzlich, dass hinter diesem Tor die Menschen einfach so verschwanden“, sagt sie. Mehlstäubl berichtet, dass sein Bruder eine Vermisstenanzeige erstattet hatte, nachdem er nach der Verhaftung nicht mehr auftauchte. „Nach 14 Tagen erhielt mein Bruder die Mitteilung mit einer Postfach-Nummer“. Das Kreisgericht Potsdam hatte ihn wegen eines Fluchtversuches über die Tschechoslowakei zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Zur Vernehmung musste er unter anderem in der Lindenstraße 54 einsitzen: Einzelhaft, dunkle Zelle, außer mit dem Vernehmer keine Kontaktmöglichkeit. Das Kuriose: Zum Vernehmer entwickelte sich das Verhältnis wie zu einer Bezugsperson. „Es wurde Wert darauf gelegt, die Menschen kaputt zu machen“, sagt Mehlstäubl. „Ich war froh, wenn ich mal frische Luft schnappen konnte.“ Es sei unglaublich, was für einen Riesenapparat die Staatssicherheit in Gang setzte, nur weil er den Wunsch hatte, umzuziehen. Durch DDR-Gesetz formal legitimiert, war die Strafverfolgung der Ausreise ein Verstoß gegen das Menschenrecht. In den ersten zwei Monaten des Jahres 1989 rechnete die Potsdamer Untersuchungsabteilung 48 Ermittlungsverfahren ab, davon 35 wegen „ungesetzlichen Grenzübertritts“. Aufgrund einer Amnestie kam Andreas Mehlstäubl vorzeitig frei und durfte am 1. März 1988 ausreisen. „Trotzdem die Mauer zwanzig Monate darauf fiel, habe ich meinen Weg nicht bereut“, sagt er. Zu seinem Vater habe er nie wieder Kontakt gesucht.
Günter Schenke
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