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ZUR PERSON: Der erste Schuss – ein Rohrkrepierer

Vor 70 Jahren begann mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Der Potsdamer Wilhelm Stintzing erinnert sich

Stand:

Sie waren Wehrmachtssoldat – vom ersten bis zum letzten Tag des Zweiten Weltkrieges. Beschreiben Sie bitte Ihre Erinnerungen an den Kriegsausbruch.

Sie bitten mich, über eine Zeit zu sprechen, die siebzig Jahre zurückliegt. Damals war ich fünfundzwanzig Jahre und sah die Welt mit den Augen eines jungen Mannes. Kaum jemand kann sich heute noch in diese Zeit versetzen, in der wir nicht wussten, was wir heute wissen. Nach den Ereignissen ist man immer klüger als vorher, und eine späte Geburt darf kein Anlass zur Selbstgerechtigkeit sein. Das bitte ich zu bedenken, wenn ich hier nach bestem Wissen und Gewissen meine damalige Haltung schildere. Also: Nach meinem Examen wurde ich zum Wehrdienst eingezogen. Ich lag in Spandau bei der schweren pferdebespannten Artillerie. Wir mussten die Kaserne räumen, um Reserveeinheiten Platz zu machen und wurden losgeschickt nach Seeburg. Dort bekamen wir scharfe Munition ausgehändigt. Tags darauf wurden wir auf einen Truppenübungsplatz in Pommern transportiert. Dann haben wir übernachtet und am nächsten Tag ging es in einem langen Zug nach Polen.

Wussten Sie, dass Sie in den Krieg ziehen?

Das war uns klar.

Warum war Ihnen das klar?

Die Stimmung war so angeheizt, dass man wusste, da passiert jetzt irgendetwas.

Haben Sie sich auf den Krieg gefreut?

Nein, auf keinen Fall. Es gehörte zur Tradition, die uns tief eingebleut war, dass ein Mann sein Vaterland verteidigen muss, wenn ein Krieg da ist. Das war uns ganz selbstverständlich. Trotzdem hatten wir ein mulmiges Gefühl.

Aber Deutschland wurde doch gar nicht angegriffen?

Sie haben recht. Aber Hitler hat es natürlich so gedreht, doch von dieser Verdrehung haben wir später erst erfahren. Nein, es stimmt schon Aber irgendwie war im ganzen Land die Stimmung nach dem Versailler Vertrag, so geht das nicht weiter. Dieser Wille, so geht es nicht weiter, der steckte im ganzen Volk.

Hatten Sie eine Ahnung davon, dass Sie an einem der größten grausamsten Kriege beteiligt sein werden, den die Welt je erlebt hat?

Nein. Als wir aus Spandau auszogen, standen die Leute am Straßenrand und haben geweint. Sie haben uns zugerufen: „Kommt wieder.“ Es war also völlig anders als beim Ersten Weltkrieg, die Menschen ahnten schon, was auf sie zukommt. Aber wir waren jung und wir waren – zum Glück – relativ unbekümmert. Man hätte das ja sonst gar nicht alles durchhalten können.

Sie waren einfacher Soldat damals?

Ich hatte gerade meine Ausbildung als kleiner Soldat hinter mir. Ich saß auf dem Munitionswagen und bin so in die Welt hineingerutscht.

Wann haben Sie das erste Mal scharf geschossen mit Ihrer Artillerie?

Das war wohl am zweiten Tag. Der erste Schuss ging nicht nach Polen, sondern war ein Rohrkrepierer. Das Geschoss explodierte im Rohr und die beiden Kanoniere waren sofort tot. Es waren unsere begabtesten Leute, die dazu noch sehr skeptisch waren gegenüber allem, was mit Militär zu tun hatte.

Sie wurden nicht verletzt?

Nein, ich war auf dem Weg von den Geschützen zu den Munitionswagen. Ich sollte ein Pferd zu dem Muni-Wagen bringen, das gehorchte aber nicht. Da kam ich auf die Idee, es könnte ein requiriertes Bauernpferd sein und rief „Hü“ und „Hott“ und es setzte sich in Bewegung.

Hatten Sie Angst im Krieg?

Nein, es war einem höchstens mulmig. Ein Soldat hat keine Angst, es wird ihm höchstens mulmig. Das wird einem so eingebleut.

Haben Sie Hitler verehrt?

Nein. Er war meine Regierung. Und wir waren es gewohnt und das mache ich noch heute, wenn jemand mich regiert, dann akzeptiere ich, dass er mich regiert. Ansonsten haben wir darüber nachgedacht, wie wirst du mit dem oder dem fertig, wie wirst du heute Nacht liegen. Das ist das Eigenartige: Man philosophiert nicht.

Kein Widerspruch?

Ja kritisch war ich schon Was mich sehr empört hat, an dem Tag, wie heißt er gleich ?

Pogromnacht?

Die Kristallnacht. Das hat mich zutiefst betroffen. Es gab in der Nähe unseres Hauses eine Bank mit der Aufschrift „Nur für Juden.“ Das fand ich so beschämend, das hat mich empört.

Aber Ihre Empörung hat nicht zu irgendeinem Handeln geführt?

Nein, das hat es bei niemanden. Es gab viele, die es ganz scheußlich fanden. Aber man hat nicht eingegriffen, man hätte es gar nicht gekonnt. Hätte ich mich aus Opposition auf diese Bank gesetzt, hätten sie mich festgenommen.

Sie sind Christ?

Ja.

Christlicher Glaube und Krieg sind nicht unmittelbar vereinbar.

Das ist das Problem, das die Geschichte begleitet. Ich habe mir gedacht, jetzt bin ich dran. In der Generation davor war mein Vater dran, davor die Generation meiner Großeltern. Also es war klar, ich konnte mich dem nicht entziehen.

Sie dachten, jede Generation führt ihren Krieg?

Ja, wir sind einfach so erzogen worden, wenn dein Land dich fordert, dann stehe auch deinen Mann.

Haben Sie die militärischen Erfolge in Polen gefeiert?

Nein, abgesehen von den ersten Schüssen kamen wir mit unsere schweren Artillerie gar nicht zum Tragen. Es hieß immer nur „nicht schießen, die Polen laufen so schnell, ihr schießt sonst auf eure eigenen Truppen“.

Da waren Sie froh, dass sie langsame Pferde hatten, die hinter den motorisierten Truppen nicht hinterherkamen?

Ja, das ist durchaus möglich.

Wie ging es nach dem Sieg über Polen für Sie weiter?

Wir wurden dann in den Westen verlegt, an die Luxemburger Grenze. Aber natürlich mit der Absicht, dass wir nach Frankreich marschieren.

Immer noch mit der Pferdeartillerie?

Ja. Ich habe einen Großteil meines Soldatenlebens mit Pferdepflegen zugebracht.

Waren Sie einmal in Lebensgefahr? Hätte es Sie auch erwischen können?

Ich habe Glück gehabt. Einmal hatte ich den Auftrag, nach Rumänien einen Transport zu bringen und als ich zurückkam, waren die Truppen nach Russland einmarschiert. Ich musste meine Einheit suchen und als ich sie fand wurde gesagt, wir haben alle Stellen besetzt. Aber wir haben ein kaputtes Funkgerät, können Sie es da und da hin bringen zur Reparatur. Als ich zurückkam, waren sie schon kämpfend vorgerückt bis zur Beresina, wo auch schon Napoleon seine Armee verloren hat. Als ich mich bei meiner Dienststelle meldete, wurde mir gesagt: „Ihre Einheit ist aufgerieben“. Das heißt, sie existierte nicht mehr.

Wie war es, als sich die große Niederlage andeutete?

Ziemlich früh war uns klar, dass der Krieg verloren ist. Alle Siegesmeldungen, das konnten wir auf der Karte verfolgen, kamen immer wieder ein Stück von weiter rückwärts, immer wieder ein Stück weiter an Deutschland ran. Man hatte nur noch das Gefühl, ich möchte gerne meine Eltern schützen.

Haben Sie irgendwann daran gedacht, Hitler hat uns den Schlamassel eingebracht?

Nein. Die Propaganda war so, das Hitler immer ausgespart wurde. Man hatte einen fürchterlichen Zorn auf die SS, auf die Truppen, die das Hinterland befrieden sollten. Immerhin, einmal hat ein Vorgesetzter in einer Besprechung gesagt, „dieser Scheiß-Hitler“ – und niemand hat gewagt, ihn anzurühren.

Zorn auf die SS?

Die haben wir gehasst. Einmal, ich kam gerade in meine letzte Einheit in Italien, da saß einsam der Major und trank. Dann erzählte er mir die Geschichte. Die hatten einen SS-Mann in unsere Einheit geschickt, der sollte uns garantiert beobachten. Alle waren sich einig, der muss raus. Da haben sie ein Fest veranstaltet und ihn besoffen gemacht. Die ganze Einheit war nachher betrunken. Dann haben sie dem Mann eine Pistole gegeben und gesagt: „Du bist so unmöglich, erschieße dich!“ Daraufhin hat der das Weite gesucht und kam nicht wieder. Als ich dazu kam, saß mein Major gerade da und trank sich wieder nüchtern. Um dann gleich anschließend mit mir nach Rom zu fahren.

Was haben Sie in Rom gemacht?

Ich habe mir das alte Rom angesehen. Mein Major hatte eine Besprechung und ich ein paar Stunden Zeit.

Ist es nicht schön, heute nicht mehr Krieg führen zu müssen, um als junger Mensch fremde Länder zu sehen?

Ja, ganz ausgesprochen! Die Art und Wiese, in der meine Kinder und Enkel die Welt bereisen, ist eine andere, als die, in der wir herumgefahren sind. Jede Niederlage, selbst im Krieg, bringt eine Chance zum Neuen, wenn man sie begreift. Man muss überlegen: Was kann ich aus dieser Niederlage an Zukunft gewinnen? Das Beste ist doch, dass aus diesem Krieg Europa geworden ist. Das ist etwas ungeheuer Positives. Wenn wir die zerbombten Städte wieder aufbauen, sollten wir dies nicht blind tun, sondern nach vorn bauen. Aus dem Alten und dem Neuen könnte etwas sehr Interessantes entstehen.

Potsdam ringt nun um die Wiedergewinnung seiner im Krieg zerstörten Mitte

Nun entsteht der neue Landtag, aber innen modern und funktionell, und außen mit der wunderbaren Fassade, die einmal Knobelsdorff geschaffen hat. Das Gleiche denke ich mir auch für die Garnisonkirche. Aber es macht keinen Sinn, sie aufzubauen, ohne zu wissen, wozu. In Potsdam liegen keine Truppen mehr. Potsdam ist keine Militärstadt mehr. Aber eine Universitätsstadt, eine Stadt der Forschung. Es geht um unsere Zukunft, um Umwelt, um Rohstoffe, Ernährung. Im Laufe meines Lebens hat sich die Zahl der Menschen mehr als verdoppelt. Und sie wächst weiter. Das sind Herausforderungen, die auf uns zukommen. Es müssen Lösungen gesucht werden unabhängig von der Tagespolitik und den Interessen der Konzerne. Auch und gerade Forschung braucht so etwas wie ein Gewissen: Verantwortung vor Gott und den Menschen. Ich denke mir die Garnisonkirche daher als Universitätskirche.

Wo waren Sie bei Kriegsende?

In Salzburg, in einer ganz komischen Situation, das können Sie aber nicht bringen. Man wusste, auf Salzburg kommen auf der einen Seite die Amerikaner und auf der anderen die Russen zu. Dann sagten sich die Salzburger, wenn die Russen kommen, dann wehe uns, denn wir haben viele Alkoholvorräte. Also müssen wir die vorher trinken. Ganz Salzburg hat gefeiert. Es war unvorstellbar. Dann bekamen wir den Befehl, uns in die Berge zu verziehen und jeder müsse eben sehen, wie er dort unterkommt.

Wie ging es weiter?

Ich beobachtete, wie die Amerikaner in eine Stadt einzogen und da hat mich etwas ganz tief getroffen: Die Leute haben geflaggt. Eben noch waren sie Kameraden und mit einem Mal waren sie auf der anderen Seite. Das hat mir weh getan.

Waren es weiße Fahnen?

Nein, ihre Fahne, die österreichische, nicht mehr die reichsdeutsche.

Plötzlich waren sie alle Österreicher.

Ja, vollständig.

Hatten Sie irgendwann den Gedanken, auf der falschen Seite gewesen zu sein?

Was wäre denn die richtige gewesen?

Wehrmachtsdeserteure waren mit Sicherheit auf der richtigen Seite.

Ja, die wurden erschossen. Der Gedanke wäre mir auch nie gekommen. Als wieder zurück nach Berlin kam, da erfuhr ich erst, was alles passiert ist und dass Hitler dahinter stand. Da kam erst das tiefe Erschrecken. Vorher waren wir Soldaten und haben getan, was uns befohlen wurde und haben diese Dinge nicht gewusst. Wir haben von Auschwitz keine Ahnung gehabt. Wir haben manches gesehen und gehört, was uns tief erschreckt hat. Aber wir haben nicht gewusst, dass es systematisch war.

Was hat Sie tief erschreckt?

Ich werde nie ein Gespräch mit einem SS-Mann vergessen, in Görz, Gorica. Ich hab ihn einfach mal gefragt: Sag mal, was macht ihr mit den Gefangenen? Da erzählte er, es gibt KZs der ersten, zweiten und dritten Klasse. Ich fragte: Ihr habt doch vor kurzem einen Jungen verhaftet, weil er auf Hitler geschimpft hat. In welches KZ kommt der? Ja selbstverständlich in KZ drei, sagte der, dass sind die, wo die Menschen nie wieder rauskommen. Dann habe ich meinem Kommandeur gesagt, bitte passen Sie auf, dass wir nie einen Gefangen an die SS ausliefern.

Wie war es, als Sie die zerstörten Städte gesehen haben?

Komischerweise habe ich sogar noch das verkraftet. Ich bin durch das zerstörte Dresden gegangen. Das gehört zu einem verlorenen Krieg, dachte ich wohl. Richtig begriffen habe ich es aber erst, als in Berlin die Leute schimpften, weil die Ringbahn überfüllt war. Da war mir klar, wir haben den Krieg wirklich verloren. Bei allen schwierigen Situationen hatten die Berliner immer irgendeinen Witz. Der war plötzlich nicht mehr da.

Das Interview führte Guido Berg

Wilhelm Stintzing wurde am 28. Juni 1914 in Omaruru in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, heute Republik Namibia, geboren. Es ist der Tag des Attentats von Sarajevo. Mit fünf Jahren siedelte Stintzing mit seinen Eltern nach Potsdam über, wo seine Großeleltern wohnten.

In Potsdam machte Stintzing Abitur. Als Jugendlicher erlebte er den „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933, den inszenierten Schulterschluss von Hindenburg und Hitler. Nach dem Abitur studierte Stintzing Theologie in Berlin und Tübingen.

Den Zweiten Weltkrieg erlebt Stintzing als Soldat vom ersten bis zum letzten Tag. Einen Fronturlaub nutzte der junge Mann, um sein zweites Examen zu machen. Nach dem Krieg übernahm Stintzing zunächst eine Pfarrstelle in Bötzow. 1947 zog er mit seiner Frau nach Groß Glienicke. Als Pfarrer gelang ihm in dem geteilten Ort ein grandioser Coup. Ein Teil Groß Glienickes lag in der sowjetisch besetzten Zone, der andere im britisch besetzten Teil Westberlins. Ab 1950 konnten die Christen aus dem zu Westberlin gehörenen Ortsteil nicht mehr die Kirche im DDR-Teil besuchen. Bei Beerdigungen standen sie am anderen Ufer des Sees und hörten nur das Läuten der Glocken. Kurzerhand baute Stintzing gemeinsam mit vielen Helfern eine Kapelle auf der Westseite, die geografisch gesehen, im Osten lag. 1964 übernahm er die Gemeinde in der Waldstadt II und 1979 ging er in den Ruhestand.

Stintzing engagiert sich sehr für soziale Projekte sowie den Wiederaufbau der Garnisonkirche. 2007 sorgte er mit einer Rede in Erinnerung an die Potsdamer Bombennacht für kritische Reaktionen. Hitler habe die Arbeitslosigkeit weitgehend beseitigt, so Stintzing damals. Er habe damit lediglich verdeutlichen wollen, warum Hitler so viele Anhänger hatte. gb

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