Landeshauptstadt: Der gesunde Wutschrei
Psychologe Prof. Günter Esser sagt, Jugendliche arbeiteten durch expansives Verhalten Trauer schnell ab
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Mit Kreuzen, Blumen, Kerzen und Plüschtieren ist ein Stück Rasenhügel zwischen Tramgleisen und Kiepenheuerallee geschmückt. Hier verstarb vor anderthalb Wochen der 17-jährige Marc-Philip G., nachdem er unter den zweiten Wagen einer Tatra-Straßenbahn geraten war. „Trauer braucht solche Symbole“, sagt Günter Esser, Professor für klinische Psychologie und psychologischer Psychotherapie an der Universität Potsdam. Zu Pilgerstätten machten besonders Jugendliche jene Orte, an denen Menschen, die ihnen nahestanden, aus dem Leben gerissen wurden. „Eine durchaus gesunde Reaktion“, wie Esser erklärt. Trauerarbeit sei wichtig. Damit werde das Unbegreifliche greifbarer, so der Psychologe, der sich bei seiner wissenschaftlichen Arbeit auf Kinder und Jugendliche sowie Verhaltenstherapie konzentriert.
Anders als beim Tod durch Krankheit, die den Menschen Zeit zum Abschiednehmen gebe, liege die Aufarbeitungsphase beim plötzlichen Versterben „logischerweise komplett hinter dem Ereignis“. Nach tiefer Bestürzung und Trauer folgten vor allem bei jungen Menschen heftige, ausdrucksstarke Reaktionen. „Sie machen etwas Verrücktes“, sagt Prof. Esser. Jugendliche würden ihre Wut und Ohnmacht herausschreien. Es käme zu „Substanzmissbrauch“, also Drogen- oder Alkoholkonsum, nennt er Beispiele für so genanntes expansives Verhalten. Beides helfe in dieser Extremsituation, die depressive Stimmung zu bewältigen, sagt der Psychologe. Manche machten auch Witze, die „natürlich nicht so gut bei Freunden und Kumpels“ ankämen. Diese seien aber ebenso Zeichen der Hilflosigkeit. Erwachsene seien meist gefasster, bräuchten aber in der Regel länger für die Trauerarbeit. Die, so der Psychologe, könne sich bei allem Menschen bis zu einem Jahr hinziehen. Das sei noch im normalen Rahmen. Danach allerdings solle die Rückkehr in den Alltag spätestens erfolgt sein. Geschehe dies nicht, sollte man therapeutische Hilfe zur Trauerbewältigung in Anspruch nehmen, rät der Universitäts-Professor.
Es sei vor allem die „Unerwartetheit“, die Unfalltod oder auch Selbsttötung unfassbar machten. Hinzu käme, dass der Tod im Leben von Jugendlichen eigentlich nicht vorkomme, erklärt Günter Esser. Junge Menschen lebten meist „voll auf Risiko“, beseelt von dem sicheren Gefühl, dass ihnen ja nichts passieren könne. Kurzum: „Sie halten sich für unsterblich.“ Sterbe einer aus ihren Reihen dennoch, seien sie deshalb mehr als Erwachsene bis ins Mark getroffen, es stürze sie in tiefe Trauer. Aus der sie aber meist mit ähnlichem Tempo wieder herausfänden. „Starke Gefühlsschwankungen sind der Jugend ohnehin eigen“, sagt Prof. Esser. Mal himmelhochjauchzend und dann zu Tode betrübt – Turbulenzen, die zur normalen Entwicklung des Menschen gehörten.
Bald schon werde das Pilgern zur Unfallstelle, einige Schritte von der Haltestelle Campus Fachhochschule entfernt, nachlassen. Irgendwann werden die dort abgelegten Blumen verblüht, das Foto von Marc-Philip verblasst sein. Die Erinnerungen an den 17-Jährigen bleiben – in den Köpfen und Herzen seiner Mutter, Geschwister, Freunde. Es habe etwas Beruhigendes, „dass es sich in unserer Gesellschaft nicht so schnell sterben lässt“, sagt der Psychologe und meint das langsame Vergessen. In anderen Ländern, wo Gewalt und Tod an der Tagesordnung seien, gebe es kaum Zeit zum Trauern. „So lange wir an einen Menschen denken, lebt er weiter.“
Nicola Klusemann
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