
© Andreas Klaer
Landeshauptstadt: Der längste Tag des Shlomo Wolkowicz
Ein Zeitzeuge des Holocaust berichtete in der Voltaire-Schule über das „Das Grab bei Zloczow“
Stand:
Schüler kommen rein. Schüler gehen. Eine Lehrerin sagt, sie hätten jetzt im Unterricht zu sein und nicht hier, in der Aula der Voltaire-Gesamtschule. Sie müssen gehen. Zum Bio-Unterricht. Dann kommen sie zurück, dürfen bleiben. Eine Schülerin drückt fiepsend Handcreme aus eine Tube, jemand öffnet eine Wasserflasche, es zischt. Die Jungs tuscheln, Unruhe. Der kleine alte Mann im schwarzen Jackett wird kaum wahrgenommen. Er steht vor einer Europakarte der DDR-Firma Haack-Gotha, auf der Lettland noch die Lettische Sozialistische Sowjetrepublik ist, ein überwundener Zustand.
Nach Begrüßungsworten übernimmt der Mann im schwarzen Jackett das Wort, er spricht Deutsch mit schwachem, kaum merklichem polnischen Akzent. Shlomo Wolkowicz ist 88 Jahre alt, lebt seit Jahrzehnten in Haifa, Israel. Er ist Jude, aber kein sehr religiöser, nur an zwei Feiertagen im Jahr, wird er den Schülern später erzählen, geht er in die Synagoge. Der Verein Neue Impulse aus Berlin hat es ermöglicht, dass Shlomo Wolkowicz an diesem Dienstag zu den Schülern sprechen kann.
Sommer 1939, Blitzkrieg. Nach zwei Wochen hat die deutsche Wehrmacht große Teile Polens erobert. Gleichzeitig dringt die Rote Armee in Polen ein und besetzt das Gebiet, in dem Shlomo Wolkowicz lebt. Er ist damals 17 Jahre alt. Was er damals nicht wusste: Deutschland und die Sowjetunion hatten sich in einem Geheimvertrag geeinigt, sich Polen aufzuteilen. „Mir die Hälfte, dir die Hälfte“, sagt er den Schülern. Zwei Jahre lang lebte Shlomo Wolkowicz unter der Besatzung des sowjetischen Regimes. „Es war nicht angenehm.“ Dann griff die Wehrmacht die Sowjetunion an. Lemberg wird bombardiert. Shlomo Wolkowicz und zwei weitere Schüler fliehen aus der Stadt, erleben Luftangriffe auf russische Truppen, gelangen ins 70 Kilometer ferne Zloczow. Dort hat der Junge einen Onkel. Auch diese Stadt wird eingenommen. Am Tag nach der Wehrmacht kommen SS-Einheiten, bei denen sich Hunderte Ukrainer – neben den Juden die zweite Minderheit in Polen – freiwillig melden. Für eventuelle Aktionen gegen die Juden. Plötzlich eine Bekanntgabe: Alle Juden müssen sich um 8 Uhr am Rathaus zur Arbeit stellen. Wer sich weigert, wird erschossen. Shlomo Wolkowicz zweifelt. Wieso alle Juden? Sollen auch Frauen und Kinder arbeiten? Er geht nicht hin, wird aber bereits um 9.30 Uhr mit seiner Tante und deren Tochter Dora aus dem Haus gezerrt, von einem SS-Mann und zwei Ukrainern. Sie werden zum Schloss getrieben, das der russische Geheimdienst als Gefängnis für politische Gefangene genutzt hatte. Sie treffen auf andere Juden. „Wer seit ihr?“ „Die, die um 8 Uhr am Stadthaus waren.“ „Dann haben wir gar nichts versäumt.“ Shlomo Wolkowicz geht langsam die Treppe hoch, er steht am Rand des Schlosshofes, der ausgebaggert ist. Am Boden der Grube sieht er Hunderte Leichen. Die Juden tragen diese Leichen weg. Auch Shlomo Wolkowicz schleppt Leichen. Es sind die politischen Gefangenen, die der russische Geheimdienst vor dem Abzug umbrachte. Es beginnt „der längste Tag in meinem Leben“, sagt der alte, aber bewundernswert rüstige Mann. Sein Buch über diesen Tag trägt den Titel: „Das Grab bei Zloczow“. Bis zum Abend trägt Shlomo Wolkowicz Leichen. Der alte Mann hält ein kleines Modell in den Händen, darauf ein Schlossbild und ein großes schwarzes Viereck, der Schlosshof, das Grab. Hin und wieder wird ein Jude gerufen. Er klettert aus dem Massengrab und wird von den SS-Soldaten „brutal totgeschlagen“ und mit den Stiefeln zurück in die Grube gestoßen. „Junge, wir kommen wieder nach Hause“, sagt ein Leidensgefährte. Der junge Shlomo Wolkowicz glaubt das nicht. „Keine Sekunde.“ Immer hat er das Gefühl, „die schauen auf mich“. Aber er wird nicht zum Totschlagen an den Grabrand gerufen. Zwei Soldaten mit Maschinengewehren kommen, bauen sich am Grubenrand auf. Eine Kommandostimme: „Feuer!“ Die MGs feuern, es „setzte ein Schreien der Masse ein, die Erde hat gezittert“. Shlomo Wolkowicz lässt sich fallen. Plötzlich ein Befehl zum Aufhören. Ein hoher Offizier, der erschienen ist, sagt, die Frauen und Kinder dürfen gehen. Unter ihnen seine Tante und auch Dora. Er kriecht durch das Grab zu ihnen. Spricht mit ihnen. „Komm mit!“, sagt Dora. Doch Shlomo Wolkowicz’ Instinkt verlässt ihn nicht, er kriecht zurück zu den noch lebenden Männern. Die Frauen und Kinder müssen einzeln die Treppe runter, da hätten sie ihn wohl erwischt und sofort erschossen. Dora dreht sich zu ihm, winkt ihm und geht.
„Feuer!“ Die MGs feuern auf die Männer im Grab, Leichen über Leichen fallen auf ihn, Shlomo Wolkowicz verliert das Bewusstsein. Als er erwacht, stößt er mit der Faust ein Luftloch durch den Leichenberg. Es regnet, er leckt Wassertropfen von seiner Faust. Neues Leben erwacht in ihm, nach Stunden arbeitet er sich nach oben und sieht im Licht des Vollmondes „ein schreckliches Bild“.
Shlomo Wolkowicz kommt davon. Dieses Mal, nächstes Mal. Einmal schlagen sie ihn halb tot. Er kann fliehen, bevor Lager liquidiert werden. „Es hat noch 1000 Tage gedauert. Jeder Tag war schlimm.“
Jahrzehnte später, bei einem Vortrag, erwähnt er, was er sonst nie tut, den Namen des hohen Offiziers, der zugunsten der Frauen das Feuer am Grab einstellen ließ. General Korfes, Otto Korfes, später Leiter des Potsdamer Staatsarchivs. Dessen Tochter fällt Shlomo Wolkowicz nach seinem Vortrag um den Hals, erzählt ihm von dem Buch, das Korfes schrieb, darin ein Foto, dass das Grab zeigt bei bei Zloczow, voller Leichen. „Ich bekam nach 50 Jahren das Bild von meinem eigenen Grab“, sagt Shlomo Wolkowicz, „unglaublich“.
Haifa, nach dem Krieg. Ein Anruf. „Hier Dora.“ Er sagt: „Irrtum!“ Sie: „Nein, Shlomo, hier ist Dora.“ Beide haben lange nicht sprechen können. Shlomo Wolkowicz: „Doch seither, an jedem Samstag, ruft Dora den Shlomo an.“ Sekunden völliger Stille im Saal. Dann aufbrausendes Klatschen. Viele Schüler haben gerötete Augen. Und Fragen über Fragen.
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