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MÄRKISCHER STADTSPAZIERGANG 1 in die Fontanestadt Neuruppin: Der Riese von der Seepromenade

Nach dem großen Brand 1786 wurde das völlig zerstörte Neuruppin generalstabsmäßig wieder aufgebaut. Heute gibt sich die preußischste aller Städte jung – und leistet sich den 15 Meter hohen Parzival am Hafen

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MÄRKISCHER STADTSPAZIERGANG 1 in die Fontanestadt NeuruppinNach dem großen Brand 1786 wurde das völlig zerstörte Neuruppin generalstabsmäßig wieder aufgebaut. Heute gibt sich die preußischste aller Städte jung – und leistet sich den 15 Meter hohen Parzival am Hafen Von Claus-Dieter Steyer Für einen Moment wirkt die Enge im düsteren Turm der Neuruppiner Pfarrkirche bedrohlich. Doch es bleibt nicht viel Zeit zum Bangen. Nach einem Knopfdruck kracht und knallt es, Menschen schreien durcheinander, irgendwo scheut ein Pferd. Die Töne kommen zwar nur vom Band, aber in der eigentümlichen Atmosphäre des Turms fühlen sich die Gäste in eine andere Zeit versetzt – ins Jahr 1786. Ein Augenzeuge schildert die dramatischen Stunden am Nachmittag des 26. August jenen Jahres. Damals hatte eine Scheune vor der Stadtmauer Feuer gefangen. Ein kräftiger Wind fegte den Brand in de Stadt. 415 Bürgerhäuser – zwei Drittel des Ortes – waren nicht mehr zu retten. Acht Menschen starben, 3000 wurden obdachlos. Die barocke Nikolaikirche, das Rathaus, Schulen und viele andere Bauten fielen den Flammen zum Opfer. Schon bald danach machte der gigantische Wiederaufbau Neuruppin zur preußischsten aller Städte: exakt geplant und der Aufklärung verpflichtet . Ganze sechs Minuten läuft das Tonband. Es geht auf einen Brief des Predigers Seger an einen Bekannten zurück. Zusammen mit der im Treppenaufgang gezeigten Ausstellung über den Brand und den Neubeginn erhält der Gast hier die beste Erklärung für die schachbrettartige Anlage der Stadt. Beim Spaziergang durch die Straßen fällt dieser strenge rechtwinklige Grundriss sofort ins Auge. Denn nichts wurde beim neunjährigen Wiederaufbau dem Zufall überlassen. Man erkannte die Chance, neueste Erkenntnisse zu berücksichtigen. Neuruppin sollte in die Zukunft weisen – und dieser Tradition fühlt sich die Stadt bis heute verpflichtet. Als Symbol ließen die heutigen Bürger den Künstler Matthias Zagon Hohl-Stein im Jahre 1998 eine 15 Meter hohe Edelstahlskulptur errichten – den Parzival an der Seepromenade in Sichtweite zu den Zwillingstürmen der Klosterkirche. Es ist ein Sinnbild für den Versuch Neuruppins, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Denn Parzival, die Figur des mittelalterlichen Dichters Wolfram von Eschenbach, stellt den suchenden Menschen dar. Dass Neuruppin nach dem großen Brand systematisch wieder aufgebaut wurde, garantierte eine Kommission aus fünf hohen preußischen Beamten mit guten Drähten zum König. Friedrich Wilhelm II. war kurz zuvor auf den Thron gestiegen und wollte der alten Garnisonstadt ohnehin ein völlig neues Gesicht geben. So dominiert den zentralen Platz, heute „Schulplatz“, nicht wie gewöhnlich eine Kirche oder das Rathaus, sondern das Gymnasium. Und die Markthändler bauen ihre Stände gleichfalls auf dem Schulplatz auf. Alle Schul- und Bildungsaufgaben sollten nicht mehr der Kirche, sondern dem Staat unterstellt werden. So drückte sich die Aufklärung in Neuruppin im Stadtbild aus. Die Protestanten bauten ihre Pfarrkirche deshalb auf dem Kirchplatz, der vorgesehene Platz für das katholische Gotteshaus auf dem Paradeplatz (heute Bernhard-Brasch-Platz) blieb leer, weil die Gemeinde das Angebot ablehnte. Als Dank an den König sammelte die Bürgerschaft Geld für ein Denkmal, dessen Gesamtanlage Karl Friedrich Schinkel schuf. Der berühmte Baumeister hatte bei dem Stadtbrand seinen Vater verloren. Genau 42 Jahre nach dem Feuer fand die Enthüllung des Denkmals für Friedrich Wilhelm II. auf dem Schulplatz statt. 1947 verschwand die Bronzeskulptur vom Sockel. Eine Büste von Karl Marx bestimmte zu DDR-Zeiten die Hauptstraße. Doch mit der Wende besannen sich die Bürger auf ihre Tradition. Es begann eine große Suchaktion nach dem „dicken Wilhelm“. Da alles vergeblich blieb, sammelte man Spenden – und seit 1998 blickt der König nun wieder in Richtung Gymnasium. Stadtführer Eberhard Greulich, der im Kostüm des sagenumwobenen ersten Klostervorstehers Pater Wichmann Touristen durch Neuruppin führt, spürt die Anerkennung der Gäste. „Zwei Drittel der Sanierung sind geschafft“, sagt er stolz. „Dabei passieren noch Wunder.“ Er genießt die Neugier der Besucher und nennt einen geheimnisvoll klingenden Namen: „Uphus“. Dahinter verbirgt sich ein kleines Hotel mit Restaurant und einer Kapelle an der Siechenstraße. Beide liegen in jenem Stadtviertel rund um die Klosterkirche, das vom Stadtbrand verschont geblieben war. „Uphus bedeutet offenes Haus, dessen oberes Stockwerk auf das Erdgeschoss aufgesetzt wurde“, erklärt Gabriele Lettow, die Chefin des Hauses und des Fördervereins der benachbarten Siechenhauskapelle. „Im Restaurant tafeln die Gäste im ältesten Fachwerkhaus der Stadt aus dem 17. Jahrhundert“, schwärmt sie. In der Siechenhauskapelle kamen sogar schon seit dem Jahre 1491 Kranke und Arme unter. Doch in den letzten DDR-Jahrzehnten verfielen Uphus und Kapelle. Gabriele Lettow eröffnete 1994 zuerst das Hotel, dann rief sie zur Rettung der Kapelle auf. Sie organisierte Konzerte und Geldspenden und zapfte Förderprogramme an. Seit dem Vorjahr erstrahlt die Siechenhauskapelle im alten Glanz – als Konzertstätte und Standesamt. Erneut haben sich die Neuruppiner selbst ein historisches Schmuckstück zurückgeholt.

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