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Alltagskultur in der DDR: Der schleichende Wandel der Lebensgewohnheiten

Potsdamer Zeithistoriker untersuchen den Umbruch des Alltags und der Arbeitswelt nach der Maueröffnung. Schon jetzt steht fest: Die DDR hat die Menschen stärker geprägt als gedacht.

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Potsdam - Nach der Arbeit in der Fabrik begann die zweite Schicht im privaten Garten. Celmens Villinger vom Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam untersucht die privaten Konsumwelten der Ostdeutschen vor und nach der Wiedervereinigung. Die Ernährung im Sozialismus ist eines der Themen. Die Versorgung habe in der DDR nicht nur in den häufig mangelhaft ausgestatteten Konsum-Läden stattgefunden. Vielmehr habe auch der heimische oder ländliche Garten wesentlich zur Vielfalt in der Küche beigetragen, so Villinger. Wie sich dies genau auf die Stimmung der DDR-Bürger ausgewirkt hat, will er im Laufe seiner gerade begonnenen Studie herausfinden.

Am ZZF untersucht man den Umbruch der Lebensgewohnheiten, der Arbeitswelt in Städten und Dörfern nach dem historischen Datum der Maueröffnung 1989. Aber es gab auch Kontinuitäten. „Das Vertrauen in das Eigenheim war auch im Osten ungebrochen“, sagt Kerstin Brückweh, Wissenschaftlerin am ZZF auf einer Tagung zum Thema. Allerdings hätten die tatsächlichen Besitzverhältnisse nach 1989 oftmals nicht mit dem dokumentierten Eigentum übereingestimmt. Denn die katasteramtliche Korrektheit sei mit der Auflösung der Grundbuchämter im Jahre 1953 untergegangen. In Häusern, deren Eigentümer in den Westen geflohen seien, hätten andere Besitzer gewohnt, so Brückweh. Häufig hätten Nutzerwechsel stattgefunden, die nicht mehr dokumentiert wurden. Bücher seien mangelhaft geführt worden, die Beamten seien häufig überlastet gewesen, die Ämter waren mangelhaft ausgestattet. „Die Verhältnisse waren verworren bis zur Unkenntlichkeit“, so Brückweh.

"Die Gesellschaft ist ein Rattenrennen geworden"

Eigentlich sei es ja auch gar keine Wiedervereinigung gewesen, meint Politikwissenschaftlerin Ines Langelüddecke, denn die DDR sei ja der Bundesrepublik beigetreten. Darum sei die historisch korrekte Bezeichnung auch: Beitritt. Abseits der korrekten wissenschaftlichen Bezeichnung war der Vorgang des Staatenzusammenschlusses mit dem Beschluss der Volkskammer am 20. September 1990 jedoch nicht abgeschlossen. Es habe unmittelbar danach für den Osten so etwas wie eine Rosskur stattgefunden, so der Kulturwissenschaftler Philipp Ther. Danach sei vieles umgekrempelt gewesen, nicht aber Institutionen und Verwaltung. Dort habe es oft eine erstaunliche Kontinuität gegeben. Der Umbruch provozierte Ängste, die heute zwar weitgehend beigelegt seien, aber Platz für neue Befürchtungen gemacht hätten, konstatiert Ther. Schafft mein Kind es auch aufs Gymnasium? Mache ich die richtige Karriere? Dies seien gegenwärtig Ängste in Deutschland. Das gelte allerdings für Ost und West gleichermaßen. „Die Gesellschaft ist ein Rattenrennen geworden, oder wird jedenfalls so empfunden“, sagt Ther.

Das „Ende der Geschichte“, das nach der Auflösung der Blockkonfrontation der Systeme erwartet wurde, sei jedenfalls nicht eingetreten. Stattdessen hätten sich Ost und West rasch gewandelt, jedoch auf unterschiedliche Weise. Während viele Ostbürger auf der Suche nach Arbeit wegen geschlossener Betriebe nach Westen gewandert seien, hätten sich nicht wenige Westbürger aufgemacht, um im Osten Chancen wahrzunehmen oder verlorenes Eigentum zu reklamieren.

DDR-Sozialismus hat die Menschen stärker geprägt als angenommen

Ein Forschungsschwerpunkt von Ines Langelüddecke ist daher die Rückkehr von Adligen auf ihre ehemaligen Besitzungen im wiedervereinigten Deutschland. Die Rückkehr ging nicht immer reibungslos vonstatten. Die Landbevölkerung, die verfallene Betriebe, Schlösser und Kirchen in ihren Dorfkernen und der Umgebung sah, war deshalb noch lange nicht glücklich über die Rückkehr der ehemaligen Eigentümer, auch wenn diese möglicherweise investieren wollten. 30 Interviews hat Langelüddecke mittlerweile geführt. „Eigentlich reicht das noch lange nicht“, meint die Wissenschaftlerin. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, müssten wenigstens drei Generationen untersucht werden, die über einen Zeitraum von rund 80 Jahren berichten könnten.

Einig waren sich die auf der Tagung versammelten Wissenschaftler, dass die Prägekraft des 40-jährigen sozialistischen Zwischenspiels im Osten erheblich stärker war, als die versammelten Fachwissenschaftler am Anfang der Untersuchung vermutet hatten. Manchmal jedoch klappte der Systemwechsel überraschend reibungslos. „Hurra die Schule brennt“, betitelt Kathrin Zöller, Wissenschaftlerin am ZZF, ihren Vortrag. Wie war das, als aus Staatsbürgerkunde und Marxismus-Leninismus-Unterricht Gemeinschaftskunde wurde und plötzlich Demokratie statt Sozialismus vermittelt werden sollte? Konnte die gleiche Lehrkraft beide Unterrichtsstoffe in unmittelbarer Abfolge glaubwürdig vertreten? „Die Schule ist ein eigener Bereich, mit einer eigenen Logik, eigenen Regeln und eigenen Disziplinierungsmaßnahmen“, so Zöller. Die Probleme mit der Glaubwürdigkeit der Lehrkräfte seien geringer gewesen, als sie vermutet hätte. Manche Schüler hätten auch provozieren wollen. Aber ein Gruß an die Lehrerin mit hochgerecktem Arm sei eher die Ausnahme gewesen. „Die Aufspaltungsprozesse innerhalb der Gesellschaft und bei den Jugendlichen haben sich eher außerhalb der Schule abgespielt“, so Zöller. Nazis gegen Punks, Punks gegen Normalos, das habe innerhalb von Schulen kaum zu Konflikten geführt. 

Richard Rabensaat

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