Landeshauptstadt: Der Tod als Lehrer
Sie gelten oft als postmortale Besserwisser – die Pathologen. Dabei werden sie heutzutage öfter vor als nach dem Exitus aktiv. Und oft helfen sie mit, ihn zu vermeiden. Ein Info-Abend im Bergmann-Klinikum
Stand:
„Manche Männer kommen mit Riesenhoden.“ Dr.med. Uwe Mahlke aber hat kein Verständnis dafür. „Dabei haben die Frauen! Da fragt man sich “ Der Oberarzt am pathologischen Institut des Klinikums Ernst von Bergmann reibt sich die Augen und blickt auf. Hodenkrebs, das ist für den erfahrenen Pathologen ein sehr ernsthafter Befund. Nichtmedizinische Erwägungen und Befindlichkeiten sind ihm da fremd. Aber er ahnt, was dahinter stecken könnte: „Es hat etwas mit Potenz zu tun. Das finden die gut.“ Er lässt offen, ob er die Männer meint oder deren Frauen. Ignoranz vor dem Tod, Dr. Mahlke schüttelt den Kopf: „Da kann doch keine Hose mehr gepasst haben.“
Die Institutsbesucher nicken. Betretenheit, Scham, Ekel, Vorbehalte, all das haben sie für diesen Abend abgelegt. Die Veranstaltung soll ihnen „Einblicke in die Pathologie eines Großkrankenhauses“ bieten. All das, was das Bild der Pathologen, der „Leichenfledderer“, der „postmortalen Besserwisser“, in der Öffentlichkeit so sehr verzerrt, haben sie vor der Institutstür gelassen. Sie haben sich beeindrucken lassen von einer Aura aus Professionalität und der bei Dr. Mahlkes Sätzen mitklingenden Ethik, medizinisch helfen zu wollen.
Der Mediziner widmet sich wieder dem Mikroskop, an dem gleich mehrere Pathologie-Interessierte kleine rotgefärbte Zellen ins Visier nehmen. Das Untersuchungsobjekt sieht aus wie Griesbrei mit Kirschsoße, der auf einem kleinen gläsernen Objektträger flach gepresst wurde. Es ist aber ein winziges Stück vom Darm eines Patienten. „So sehen Eiterzellen aus“, informiert Dr. Mahlke. „Und da haben wir die Krebszellen.“ Da der Tumor bereits ins Fettgewebe einwächst, hat der Patient „eine ganz schlechte Prognose“. Krebszellen werden schon durch die Lymphgefäße abgeschwemmt, sie verbreiten sich bereits im Körper.
Bei der Probe eines anderen Patienten geht es ebenfalls um Krebsverdacht. Dr. Mahlke aber sieht unterm Mikroskop keine Krebszellen – sondern „käsige Nekrosen“, abgestorbenes Gewebe, wie es typisch ist für eine Tuberkulose-Erkrankung. Weil die ungleich einfacher zu heilen ist als Krebs, stellt Dr. Mahlke somit aus Sicht des Patienten sogar eine ganz vorteilhafte Diagnose.
„Mortui vivos docent“ – Die Toten lehren die Lebenden. Diesen Wahlspruch der Pathologen nimmt Institutsleiter Prof. Hartmut Lobeck zum Anlass, daran zu erinnern, dass die meisten Krankheiten durch die Autopsie von Verstorbenen entdeckt und aufgeklärt wurden. Die Autopsie oder auch Obduktion, das Aufschneiden von Toten, damit wird der Pathologe allgemein identifiziert. Dabei sieht deren Alltag heute so aus wie eben der Dr. Mahlkes: Gewebeproben lebender Patienten untersuchen, Diagnosen stellen, Therapien aufzeigen und Wege eröffnen, wie Patienten gesund werden können. Bevor die Besucher durch Mahlkes Mikroskop blicken dürfen, gibt Prof. Lobeck eine Einführungsvorlesung zur Pathologie. Jeden Montag lädt das Klinikum zu einem Fachvortrag, doch so voll ist der Raum sonst nie. Es müssen zusätzlich Stühle herbei geschafft werden.
Die ersten Obduktionen gab es im alten Griechenland bereits vor 2500 Jahren, erklärt Prof. Lobeck. Das Bild der Anatomen in der Vergangenheit wird durch Bilder, durch Gemälde in die Gegenwart übermittelt. Prof. Lobecks Projektor wirft das „Theatrum Anatomicum“ von Peter Paaw aus dem Jahr 1616 an die Wand. Darauf ist eine Leiche mit einem „auch heute üblichen“ Bauchschnitt zu sehen, vom Brust- bis zum Schambein. Es folgt „Die Anatomie des Dr. Tulp“ von Rembrandt, die viele aus dem Kunstunterricht in der Schule kennen. Der Anatom hat darauf einen großen schwarzen Hut auf dem Kopf, wie ihn auch der Plastinator Gunther von Hagens trägt,„ein Zeichen der Unangepasstheit“, so Prof. Lobeck. Dann zeigt er ein Bild von Rudolf Virchow, der große Mann des Faches, der 1858 als erster im Anatomiesaal ein Mikroskop verwendete und die Zellularpathologie begründete – die Arbeit, die heute Dr. Mahlkes Tagwerk ist. Die fünf Ärzte des Instituts für Anatomie sind zu 95 Prozent in der Diagnostik tätig. Sie werfen scharfe erfahrungsreiche Blicke auf gefärbte Zellen, um Nekrosen von Krebs zu unterscheiden. Prof. Lobeck zeigt nun das Bild eines Lymphknotens, der völlig leer erscheint. Erst beim Vergrößern wird ein winziger roter Punkt sichtbar, der sich bei noch näherer Betrachtung als eine Ansammlung von 18 krebsroten Zellen erweist. Der Fund dieser Zehntelmillimeter großen Mini-Metastase bedeutet für die betroffene Patientin, dass sie nach einer Entfernung des Haupttumors nun noch mit einer Chemotherapie behandelt werden muss – aber, so Prof. Lobeck, „mit guter Chance auf Heilung“.
Die Autopsie von Verstorbenen hat gegenüber der Diagnose von Krankheiten lebender Patienten in den letzten Jahrzehnten stark an Umfang verloren – nicht aber an Bedeutung. „Es wird viel zu wenig autopsiert“, klagt der Institutsleiter. 1986 gab es am Bergmann-Klinikum noch 1800 Obduktionen im Jahr, nun sind es nur noch 150. Alle zwei Tage also liegt heute ein im Klinikum verstorbener Patient auf einem der drei Edelstahltische des Instituts. In einer Obduktionskonferenz mit den behandelnden Ärzten wird dann geklärt, „was hätten wir anders machen können“. Leider stimmten derzeit nur wenige Hinterbliebene einer Autopsie zu. Weil sie glauben, die Todesruhe werde gestört. Dabei gibt Prof. Lobeck zu bedenken, dass nur so die Todesursache eindeutig geklärt werden kann. Er nennt eine nachdenkenswerte Zahl: Laut der „Görlitzer Studie“ stimmen nur 55 Prozent der von den behandelnden Ärzten gestellten Diagnosen mit den Obduktionsdiagnosen überein. Auch Hinterbliebene von zu Hause Verstorbenen können im Klinikum eine Autopsie beantragen. Das kostet 360 Euro. Die Kosten werden von den Kassen nicht übernommen, sagt Prof. Lobeck. Begründung: „Sobald jemand gestorben ist, ist er nicht mehr Mitglied der Krankenkasse.“
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