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Homepage: Der zensierte Knutschfleck

24 Chinesen, 14 Deutsche, drei Wochen, neun Filme, ein Thema: Olympia. In dieser Woche ging die HFF-Sommerakademie zu Ende

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Die Geschichte fängt mit einem Knutschfleck an. Mit einem beinahe stolzen Lächeln stellt die bildhübsche Chinesin den tiefroten Fleck kurz über ihrem Schlüsselbein zur Schau. Millionen Menschen sehen sie in diesem Augenblick. Denn es ist die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele im Pekinger „Vogelnest“-Stadium, die Frau ist eine von 15 000 Darstellern des Spektakels. Sie kann nicht wissen, dass ihr Bild gerade in Großaufnahme rund um den Globus gesendet wird. Und irgendwie wirkt der rote Fleck in dieser perfekt inszenierten Show sympathisch.

„Chinese Whisper“ – „Stille Post“, heißt der Film von drei chinesischen und zwei deutschen Studenten, in dem das Bild dieser Frau noch einmal per Internet um die Welt geschickt wird – und Anlass für einige überraschende Entdeckungen wird. Es ist einer von insgesamt neun Filmen, die während der diesjährigen Sommerakademie an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ (HFF) entstanden sind (PNN berichteten). 24 Studenten und fünf Dozenten sind dafür von der Pekinger University of Communication nach Potsdam gekommen – genau in der Zeit, in der in ihrem Heimatland das Olympia-Spektakel über die Bühne ging. Gemeinsam mit 14 HFF-Studenten haben sie die Spiele drei Wochen lang aus der Distanz verfolgt und ihre Beobachtungen in Kurzfilmen festgehalten. Die Distanz hat den Filmen gut getan, glaubt Wolfgang Tumler, HFF-Gastprofessor und Leiter der Sommerakademie. Denn vor Ort in Peking wären die Studenten von der riesigen „Medienmaschine“ regelrecht überrollt worden. Am Montagabend wurden die Filme bei der Abschlussveranstaltung im HFF-Kinosaal gezeigt – und der Beste prämiert.

In verschiedenen Gruppen haben sich die Studenten jeweils auf ein Medium konzentriert: Tageszeitungen, Illustrierte, Radio, Fernsehen oder – wie bei „Stille Post“ – das Internet. Dort sind die Studenten tatsächlich auf das Knutschfleck-Bild gestoßen: „Im chinesischen Netz“, erklärt Nikolaj Becker, einer der Macher des Films. Nach wenigen Tagen allerdings seien die Fotos und die sich daran entspinnende Diskussion aus dem Netz verschwunden. Zensur?

Dabei ist der Fleck harmlos, wie die fünf Studenten herausgefunden haben. Denn er ist ein Klassiker in der Jahrhunderte alten chinesischen Make-Up-Tradition, erklärt Quin Runze, Student aus Peking: Der Fleck soll eine verwischte Pfirsichblüte darstellen. Und Pfirsichblüten sind in China in etwa so populär wie Kirschblüten in Japan. Der Pfirsich gilt in der chinesischen Mythologie als Speise der Götter und ist Symbol für ein langes Leben – und nicht für eine lange Nacht. Das müssten eigentlich auch chinesische Zensoren wissen. „Wir haben viel über Internet in China gelernt“, sagt HFF-Student Florian Gottschick.

Politik sollte nicht im Mittelpunkt des Films stehen, erklärt Quin Runze. Und das tut sie vordergründig auch nicht: Drei Freunde auf drei Kontinenten schicken sich Mails, verändern das Foto mit Computerprogrammen und spekulieren über den Lebenswandel der chinesischen Frau – ehe das Rätsel gelöst wird. Wie nebenbei wird so ein Grundmechanismus des weltumspannenden Netzes gezeigt: Denn der Pfirsichfleck nimmt ein Eigenleben an und wandelt seine Bedeutung – so wie die geflüsterten Worte beim Kinderspiel „Stille Post“. Und das verunsichert nicht nur chinesische Zensoren, sondern letztlich jeden Internet-Nutzer. Die können nun darüber nachdenken, worauf sie sich eigentlich verlassen, wenn sie Internetangebote wie „Google“ und „Wikipedia“ nutzen – Antworten auf solche Fragen kann und will der Kurzfilm nicht geben. „Mach mir doch kein Knutschfleck“, singt die Neue-Deutsche-Welle-Ikone Ixi zum Abspann.

„Es sollte ein Film über Freundschaftsbeziehungen zwischen China und dem Westen werden“, sagt Quin Runze: „Ich denke, das ist uns gelungen.“ Das sah auch die Jury der Sommerakademie so. Für „Stille Post“ gab es daher den „Big Baumkuchen Award“ – in Anlehnung an den in China zuvor vergebenen „Mooncake Award“. Es ist bereits die vierte Sommerakademie, erklärt Akademieleiter Wolfgang Tumler: „Die Filme werden immer besser.“ Im kommenden Jahr geht es wieder nach Peking. Aber vorher wird der Knutschfleck erneut auf Internetreise geschickt. „Wir werden den Film auf YouTube hochladen“, sagt Quin Runze. Die „Stille Post“ geht weiter.

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