Homepage: Dialog über den Atlantik hinweg Neue Perspektiven für NS-Forschung
Wenig haben die Nationalsozialisten selbst erfunden. Das ist die einhellige Meinung der Historiker, die bei einem Symposium des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) die „Deutsche Gesellschaft im Nationalsozialismus“ in den Blick genommen haben.
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Wenig haben die Nationalsozialisten selbst erfunden. Das ist die einhellige Meinung der Historiker, die bei einem Symposium des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) die „Deutsche Gesellschaft im Nationalsozialismus“ in den Blick genommen haben. Nicht einmal der „Deutsche Gruß“ sei eine deutsche Erfindung gewesen, stellt der Historiker Patrick Bernhard fest. Die Nationalsozialisten plagiierten die Geste des Italieners Benito Mussolinis. Der hatte sich diese allerdings auch beim verblichenen römischen Reich abgeschaut. Auch ansonsten räuberten die Nazis gerne in alten Mythen und vorgefertigten Rollenbildern. Selbst das Hakenkreuz war keine originäre Erfindung, sondern bezog sich auf ein Symbol, das seit mehreren Tausend Jahren in Asien gebräuchlich war. Die Nazis hätten vielfach einfach vorhandene Symbole umgedeutet, stellt Bernhard fest. Ohnehin waren die Nazis bestrebt, ihren Terror dadurch zu relativieren, dass sie auf andere Völker verwiesen.
Seit Jahrzehnten beschäftigt sich die Geschichtsforschung mit der Frage, wie es den Nationalsozialisten gelingen konnte, aus einer zum großen Teil kriegsmüden und politisch polarisierten Gesellschaft ein diktatorisches System zu errichten. „Die Forschung zum Nationalsozialismus hat ganz verschiedene Stadien durchlaufen“, weiß Thomas Schaarschmidt, der die Tagung organisiert hat. Die Interpretationen unterschieden sich entsprechend den jeweiligen Zeitströmungen. Während zunächst der Fokus auf der monokratischen Herrschaftsstruktur des Regimes gelegen habe, richte sich der Blick mittlerweile auf die Art und Weise, in der die Nazis ihre Verwaltung organisiert hätten. Diese sei von persönlichen Netzwerken und informellen Entscheidungsprozessen geprägt gewesen, stellt auch der Konstanzer Historiker Sven Reichardt fest. Das habe der Willkürlichkeit von Entscheidungen Vorschub geleistet.
Aus welchem Blickwinkel der Nationalsozialismus interpretiert werde, bestimme auch die Herkunft des jeweiligen Historikers, bemerkt Schaarschmidt. Während in den USA das Thema des Holocaust eingehend betrachtet werde, würden britische Wissenschaftler eher die repressiven Strukturen und den Terror des Nationalsozialismus im Blick haben. Ganz im Gegensatz dazu habe der deutsche Historiker und Publizist Götz Aly zunächst den Begriff der „Zustimmungsdiktatur“ geprägt, referiert der Hamburger Historiker Frank Bajohr. Schließlich sei Aly sogar dazu übergegangen, von einer „Wohlfühldiktatur“ zu sprechen, was wohl eher an der Sache vorbeigehe. Denn viele Deutsche hätten auf den Terror gegen die Juden mit Scham und Ablehnung reagiert, stellten ausländische Beobachter fest. Was allerdings andere Deutsche nicht davon abgehalten habe, von eben diesem Terror materiell persönlich zu profitieren. Dennoch hätten Diplomaten während der NS-Zeit eine breite Zustimmung innerhalb der Bevölkerung zum Regime bemerkt, doziert Bajohr.
Trotz der vermutlich mehr als 40 000 Bücher zum Thema Nationalsozialismus sei eine transnationale Betrachtungsweise, die auch die Sichtweise der Historiker aus anderen Staaten berücksichtige, eher selten, sagt Bernhard. Die eingeladenen Historiker stammten aus den USA, aus England und Deutschland. Bei dem transatlantischen Expertengespräch stand die Diskussion im Mittelpunkt. Damit dürfte der Dialog innerhalb der Zunft einen Schritt nach vorne gemacht haben, vermutet Schaarschmidt. Richard Rabensaat
Richard Rabensaat
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