Landeshauptstadt: Die abgeordnete Altenpflegerin
Andrea Wicklein, Potsdamerin und Bundestagsabgeordnete der SPD, arbeitete gestern im Seniorenheim
Stand:
Andrea Wicklein, Potsdamerin und Bundestagsabgeordnete der SPD, arbeitete gestern im Seniorenheim Von Henri Kramer Es ist zehn Minuten vor zwölf und die SPD-Bundestagsabgeordnete Andrea Wicklein hat „leichten Bammel“ – in drei Stunden soll die stellvertretende Fraktionssprecherin für Bildung und Wissenschaft ein Praktikum absolvieren. Dabei tauscht sie für sechs Stunden ihre Parlaments-Garderobe gegen einen einfachen Schwesternkittel und arbeitet als Pflegekraft im Potsdamer Seniorenpflegezentrum „Haus Abendstern“ in der Hans-Albers-Straße 3. „Wenn man für solch einen Beruf nicht ausgebildet ist, fühlt man sich sicher oft hilflos“, sagt Wicklein nachdenklich. „Praktikum für Bundestagsabgeordnete“ nennt sich das Programm, an dem sich Andrea Wicklein beteiligt. Organisator ist die Aktionsgemeinschaft Wirtschaftlicher Mittelstand (AWM). „Das Projekt reagiert auf die Debatte um die Realitätsferne von Politikern“, sagt Markus Guhl, Bundesgeschäftsführer der AWG. Der Dachverband für Dienstleister jeder Coleur schickt seit vergangenem Jahr Aufrufe an alle 601 Bundestagsabgeordnete und vermittelt bei Interesse den Wunschplatz. Wicklein ist Praktikantin Nummer 28 und die zweite Abgeordnete aus Brandenburg – vor ihr arbeitete Petra Bierwirth von der SPD aus dem Wahlkreis „Märkisch-Oderland-Barnim II“ erstmalig an einer Tankstelle. Auch Wicklein besitzt bis auf Wahlkampfauftritte in Seniorenheimen keine Erfahrung in der Altenpflege. „Ich hatte in meinem Berufen aber immer mit Menschen zu tun“, sagt die gelernte Fachverkäuferin. Als sie gegen 15 Uhr eintrifft, wird sie sofort eingewiesen: Sie soll in der ersten Etage arbeiten und die dortige Wohnbereichsleiterin Beate Muhl begleiten. „Wir haben uns nicht extra etwas für Frau Wicklein überlegt, sondern behandeln sie wie jeden anderen Praktikanten“, sagt Derek Rusher, der Pflegedienstleiter im Abendstern-Heim. Auch Wicklein müsse deshalb nur soviel machen, wie sie sich zutraue. Eine Schicht, das heißt am Nachmittag vor allem Reden und Zuhören, später beim Abendbrot die Senioren bewirten, ihnen eventuell beim Essen helfen. Es folgt die Nachtversorgung. „Viele unserer 138 Bewohner leiden unter Inkontinenz und müssen mit Hilfsmitteln versorgt werden“, sagt Pflegeleiter Rush. Abgeordnete Wicklein steckt inzwischen in einem Kittel, nur ihre blauen Jeans und die Sportschuhe werden nicht von ihm bedeckt. Sie läuft neben ihrer Betreuerin Beate Muhl her, für die Presse sollen sich beide für ein Foto mit der 93-jährigen und in Drewitz geborenen Lisa Harz aufstellen – die alte Dame hat zugestimmt. Wicklein lächelt unsicher in die Kamera, muntert Frau Harz auf: „Da können Sie ihr Bild morgen in der Zeitung sehen.“ Als der Pflichttermin vorbei ist, blickt Andrea Wicklein fast schon erleichtert. Pflegerin Muhl erläutert ihr bei einem Kaffee die Dokumentation. In das dicke Buch wird alles hineingeschrieben: Wann bekam der Senior seine Medikamente, welche Arbeiten sind bereits erledigt, gab es außergewöhnliche Ereignisse? „Das ist wichtig für die Übergabe an die nächste Schicht“, sagt Muhl. Die beiden Frauen bleiben sitzen, jetzt findet Wicklein kurz Zeit, über die Motivation für ihre einmalige Praktikanten-Schicht zu reden. „Ich besitze eine Hochachtung vor Pflegeberufen, weil sie körperlich und seelisch unheimlich viel Kraft kostet“, sagt Wicklein, die solchen Jobs gern einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft geben würde. Dann blickt sie auf die Pressevertreter und bittet freundlich: „Ich möchte nicht, dass Sie solange dabei sind, schließlich bin ich wegen der Arbeit hier.“
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: