Von Guido Berg: Die Abriss-Warnungen des „Michael Berger“
Der Verein Argus baut ein Archiv für Dokumente der Wende- und Nachwendezeit auf
Stand:
Die Geschichte war innerhalb weniger Wochen vom jahrzehntelangen Stillstand in den Sprint übergegangen. Wer dachte in diesen Tagen daran, im Herbst 1989, als alles aufbrach, etwas beiseitezulegen für die Historiker? Michael Heinroth hat es getan. Ihn interessierte schon in den 1980er Jahren die Potsdamer Baugeschichte. Wenn wieder eine historische Häuserzeile abgerissen werden sollte, stöberte der Mann durch die leeren Häuser und sammelte, was ihm interessant erschien. Was da so geplant war an Abrissen, machte er in einem Artikel des grünen Netzwerk Arche DDR-weit bekannt – unter dem Pseudonym „Michael Berger“, um der Verfolgung zu entgehen.
Es sind Geschichten wie diese, die sich mit den Dokumenten, Fotos, Briefen, Eingaben, Negativen erschließen lassen, die Heinroth gestern dem Verein Argus übergab. Argus, 1988 als Arbeitsgemeinschaft für Umweltschutz und Stadtgestaltung gegründet, hat damit begonnen, ein Archiv aufzubauen, um schriftlichen Zeugnisse und Exponate der Wende- und Vereinigungszeit in Potsdam für die Nachwelt zu bewahren. „Sie glauben gar nicht, was man alles vergisst“, sagte Saskia Hüneke vom Argus-Vorstand. Es sei eine „unglaublich dichte und spannende Zeit“ gewesen, so die Bündnisgrüne Stadtverordnete, die den gestrigen Tag als „Geburtsstunde eines Bürger-Archivs“ bezeichnete.
„Interessante Zeitzeugnisse“ sind auch zwei Videos, die Heinroth in das Argus-Archiv einbringt. Sie zeigen Interviews, die mit einer in die DDR geschleusten Kamera für die ARD-Sendung Kontraste aufgezeichnet wurden. Gedreht wurden weitaus mehr als zwei Interviews, so Heinroth. Doch die übrigen waren von sehr schlechter Qualität. Später habe sich herausgestellt, dass derjenige, der die Kamera bei dieser geheimen Aktion führte, Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit war.
Aber nicht an allem war die Stasi schuld: Lange haben sich Heinroth und andere gefragt, wo das Schild abgeblieben ist, das sie an das Haus Dortustraße 68 anbrachten. Kein Geringerer als der Schimmelreiter-Autor Theodor Storm hatte dort zwischen 1854 und 1856 gewohnt. Für die Potsdamer Stadt-„Erneuerer“ dieser Zeit war dies freilich kein Grund, das Haus stehen zu lassen. Vergeblich protestierten Potsdamer Bürger – auch mit dem Schild – gegen den Frevel.
Das verschwundene Schild, das über die Stormsche Vergangenheit des Gebäudes informierte, tauchte Heinroth zufolge auf einem Basar der Fachhochschule wieder auf. Studenten hatten sich gedacht, das Schild sei viel zu schade, als dass es Opfer der Bagger werden sollte.
Auf Heinroths Material hat nicht nur Argus ein Auge geworfen, sondern auch das Potsdam-Museum. Die von ihm und Michael Zajons erarbeitete Ausstellung „Suchet der Stadt Bestes“, im September und Oktober 1989 in der Nikolaikirche gezeigt, wird Teil der neuen Dauerausstellung des Potsdam-Museums.
Finanziert durch die Stiftung Aufarbeitung werden die neu bei Argus eingehenden Dokumente gescannt, berichtet Argus-Geschäftsführerin Elvira Schmidt. So entsteht eine digitale Datenbank der Dokumente, in denen Wissenschaftler, Journalisten und Studenten recherchieren können. Saskia Hüneke: „Wir hoffen auf Forschungsprojekte.“
Ob sie ihre Dokumente bei Argus ins Archiv gibt, hat Gisela Rüdiger noch nicht entschieden. Aber scannen lässt sie sie schon einmal. Gisela Rüdiger ist seit September 1989 bei Argus. Nach der Besetzung der Stasi-Zentrale in der Hegelallee am 5. Dezember 1989 war sie Mitglied im Rat der Volkskontrolle, der die Auflösung der Stasi überwachte. Viele Dokumente, die sie bei Argus einscannen lässt, stammen auch von der Schriftgut-Kommission. Diese entschied, welche Stasi-Akten aufgehoben und welche vernichtet werden können – eine Arbeit, die unter Kritik stand, weil nicht nur Akten vernichtet wurden, die angeblich „doppelt und dreifach“ vorhanden waren. Später leitete Gisela Rüdiger die Potsdamer Außenstelle der Stasiakten-Behörde. Mögliche Forschungsfelder für Historiker deutete Gisela Rüdiger bereits an: Wie kam es zur Übernahme ehemaliger Stasi-Mitarbeiter in andere öffentliche Bereiche, etwa bei der Brandenburger Polizei?
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