Landeshauptstadt: Die Bedrohung bleibt
Wie die beiden Opfer Tamás B. und Christoph B. heute mit dem Überfall auf sie umgehen
Stand:
Es hätte alles ganz anders kommen können in dieser Julinacht. Hätten Tamás B. und Christoph B. keinen Hunger auf Döner Kebab gehabt. Hätten. So aber liefen die beiden mit ihrem Essen in der Hand die Friedrich-Ebert-Straße entlang. Den Klang der plötzlich bremsenden Combino-Bahn neben ihnen hat Christoph B. seitdem im Ohr: „Ich erschrecke immer noch, wenn so eine Bahn plötzlich neben mir hält.“ Als die Tram in jener Nacht quietschend bremste, dunkle Gestalten heraussprangen und in ihre Richtung liefen, wurden die folgenden Minuten zur Geschichte: Nach dem Überfall von bis zu 15 Neonazis lagen die beiden blutüberströmt am Boden. Eine Bierflasche wurde auf dem Kopf von Tamás zertrümmert, mit einem abgeschlagenen Flaschenhals wurde sein Kumpel Christoph B. im Gesicht und in der Nähe der Halsschlagader verletzt. Tritte gegen den Kopf inklusive.
Für Christoph B. ist in diesen Momenten wohl eine heile Welt zusammen gebrochen. Er stammt aus Baden-Württemberg, hat in Potsdam drei Jahre recht sorgenfrei studiert, spricht von sich als einem „unpolitischen Menschen“. Militante Nazis kannte er nur aus Zeitungen, aus dem Fernsehen. Weit entfernt vom eigenen Leben. Geprügelt hatte er sich noch nie. „Ich verstand schon an dem Abend nicht, warum das passiert ist“, sagt Christoph B.. Und sagt mitten im Gespräch seinem Freund Tamás B. ins Gesicht, ohne Feindseligkeit: „Er hätte ja rufen können, dass ich abhauen soll.“ Darüber haben sie sich oft unterhalten. „Als ich sie gesehen habe, wusste ich, was kommt. Aber ich war zu perplex, konnte nichts sagen und biss ein letztes Mal in meinen Döner“, sagt Tamás B. heute. Die diffuse Hoffnung auf „ein Gespräch“ endete mit dem Schlag einer Bierflasche auf seinen Kopf. Berstendes Glas. Als Christoph B. nach dem Überfall mit seinem Handy Hilfe holen wollte, machte er das Gerät kaputt: Wegen des Bluts, das aus seinen Wunden im Gesicht in das Mobiltelefon lief.
Der Überfall hat ihre Leben verändert. Es ist nicht nur die vielen Stunden, in der sie als Zeugen aussagten, Akten lasen oder sich mit ihren Anwälten trafen. Besonders bei Christoph B. ist es das Gefühl ständig wiederkehrender Angst, das sich einstellt, wenn er jemanden sieht, der aus dem rechtsextremen Lager kommen könnte. „Jedes Mal denke ich: Erkennt er mich? Will er mich schlagen?“ Deswegen beteiligt er sich, anders als Tamás B., auch kaum am Prozess. Die rechtsextreme Szene soll sein Gesicht nicht in Erinnerung behalten. Er hat ja bis jetzt nichts mit antifaschistischer Arbeit zu tun, betont er immer wieder.
Anders Tamás B., der an vielen der Verhandlungstage im Gericht sitzt. „Diese Beschäftigung ist meine Art der Aufarbeitung des Geschehens.“ Tamás B. kämpft schon lange Zeit gegen Rechtsextremismus. Er kommt aus Eberswalde, dem Ort, in dem im November 1990 rund 50 junge Frauen und Männer Jagd auf Schwarze machten und dabei den Angolaner Amadeu Antonio Kiowa tot schlugen. Vor fünf Jahren kam Tamás B. zum Studium nach Potsdam, arbeitete weiter bei Initiativen gegen Rechtsextremisten. Irgendwann entdeckte er, dass einer seiner Nachbarn, Oliver K., einer der bekanntestes Neonazis der Stadt war. Und Oliver K. merkte wohl auch, wer Tamás B. war. Einmal hat Tamás B. vor seiner Wohnung ein Foto gefunden. „Anti-Antifa – Wir kriegen dich“, stand darauf. Ein Stein wurde in seine Wohnung geworfen. An dem Abend des Überfalls soll es auch Oliver K. gewesen sein, der die Notbremse der Bahn zog und mitprügelte. Die Bedrohung bleibt. „Ein Umzug kommt nicht in Frage, dann hätten die Nazis ja gewonnen“, sagt Tamás B.
Für den Prozess wollen er und Christoph B. deshalb, dass alle Angeklagten ins Gefängnis müssen. „Das wäre ein bisschen Gerechtigkeit“, sagt Christoph B. Durch das Trauma des Überfalls erlitt er zwei Wochen später einen so genannten Flashback. Das Geschehen übermannte ihn noch einmal. Er schrie, rannte in Panik aus seiner Wohnung, fiel die Treppe herunter, brach sich ein paar Rippen. Die Situation haben ihm seine Freunde erzählt, weil er sich nicht erinnert. Anders als Tamás B., bei dem sich die Beschuldigten Marcel Sch. mündlich und Sandra C. per Brief entschuldigten, wartet Christoph B. noch auf ein Zeichen von Reue. „Bei mir hat sich keiner gemeldet.“ Henri Kramer
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