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Homepage: Die Chemie des Klangs

Der Radiokünstler Knut Aufermann studierte in Potsdam Chemie, entschied sich dann aber fürs Radiomachen

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Zwei Rucksäcke mussten genügen. Der eine barg alles, was zwei Menschen für ein Leben ohne festen Wohnsitz brauchen, in dem anderen transportierten die beiden Radiokünstler Knut Aufermann und seine Lebensgefährtin Sarah Washington ihr gesamtes technisches Equipment. Das Paar reiste zwei Jahre mit der Bahn durch ganz Europa. Es war ein selbstgewähltes temporäres Leben, in dem sie ihre Arbeit mit der Suche nach einem neuen Wohnort verbanden. Über die Reiseziele mussten sie kaum nachdenken, denn als Experten für experimentelles Radio sind sie so gefragt, dass es immer Einladungen gab, denen sie folgen konnten.

Der inzwischen 35-jährige, in Hagen geborene Aufermann wirkt weder wie ein klassischer Globetrotter, noch wie ein vergeistigter Künstler, sondern ist eher ein zurückhaltender, unauffälliger Typ. Was ihn nicht daran hindert, konsequent seinen Weg zu gehen. Genauer: die Umwege, die sich ergeben, wenn jemand offen bleibt für das ganz andere Leben, das neben dem aktuellen auch möglich wäre. Denn vor zehn Jahren lebte Knut Aufermann noch ihn Potsdam, teilte sich mit Kommilitonen eine Wohnung und studierte Chemie. Wenn er nicht in den Hörsälen saß oder die Basketballmannschaft der Uni trainierte, war er auf Konzerten anzutreffen. Nicht bei den großen, sondern bei den kleinen. Bei den ganz kleinen, ambitionierten, schrägen, experimentellen. Manchmal war er der einzige Zuhörer. Und oft war er mehr als nur Zuhörer, half beim Bühnenaufbau und beim Soundcheck – und gab den Musikern das Gefühl, Großartiges zu produzieren.

Da war es, das andere. Eine Möglichkeit. Ein Traum. Kurzerhand brach Aufermann das Studium unmittelbar vor dem Abschluss ab und investierte die kleine Erbschaft, die andere für Notfälle ansparen würden, in einen Richtungswechsel: Er zog nach London, um Tontechnik zu studieren. 2002 erlangte er seinen MA in Sonic Arts und wurde Manager des Radiosenders Resonance104.4fm. Diese ungewöhnliche Radiostation begann zu senden, just als Aufermann 1998 in London ankam. Er half als Techniker aus – und lernte innerhalb von wenigen Tagen die gesamte Londoner Avantgarde-Szene persönlich kennen, denn die Organisatoren waren das seit 30 Jahren existierende London Musicians Collective. Über das Internet konnte auch damals schon, wer wollte, den Sender überall in der Welt hören. „The best radio station in the world“, jubelte die New Yorker „Village Voice“.

2002 erhielten die Radioenthusiasten eine dauerhafte Sendelizenz, seither ziehen sie Künstler aller Sparten magisch an. „Ich brauchte nirgendwo mehr hingehen“, erzählt Aufermann. „Die kamen alle zur Tür rein. In den drei Jahren, die ich fest für das Radio gearbeitet habe, sind rund 5000 Künstler dort aufgetreten, unter ihnen Schriftstellerinnen, Filmemacher, etwa Peter Greenaway. Viele habe ich gar nicht erkannt.“ Wozu auch? Resonance104.4fm ist für alle offen, die eine gute Idee haben. Nach dem Motto: Jeder Mensch hat mindestens eine gute Radiosendung in sich.

London kann aber auch ganz schön anstrengend sein. Nachdem er hunderte Radioshows produziert und den Laden organisatorisch zusammengehalten hatte, entschied sich Aufermann, seine Idee vom freien Radio in anderer Weise populär zu machen. Gemeinsam mit seiner Freundin firmiert er seither unter „mobile-radio“. Als solches geben sie workshops, halten Vorträge und senden von Radiostationen, die sie einladen. Mitunter steht Aufermann inzwischen auch selbst auf der Bühne. Manchmal solo, oft mit anderen. Seine Bands heißen Tonic Train oder The Bosch Experience. Und es ist auch schon vorgekommen, dass er – der keine Noten lesen kann – ein Orchester dirigierte. Statt auf Notenblatt und Taktstock, bat er die Musiker des London Improvisers Orchestra auf die Gerüche zu reagieren, die er ihnen anbot. Es war einer der selten Momente, in denen seine beiden Ausbildungen ein gemeinsames Ergebnis zeitigten. Ein flüchtiges akustisches, erzeugt aus den nicht minder flüchtigen Düften diverser Chemikalien.

Auf abstrakter Ebene gibt es jedoch viele Verknüpfungen. Ihn haben in der Chemie immer die instabilen Reaktionen interessiert, strukturell gesehen, ist es diese Faszination, die ihn zur improvisierten Musik führte. Nicht der vorhersehbare, weil komponierte und schriftlich fixierte Klang reizt ihn, sondern der aus dem Moment entstehende. Chemische Instabilitäten entstehen oft aus Rückkopplungsprozessen, erklärt er. In seiner Musik ist die Rückkopplung, elektronisch erzeugt, die wichtigste Klangquelle.

Seit ein paar Monaten ist Aufermann wieder sesshaft. Aus dem Fenster schaut er auf einen Weinberg an der Mosel. Bislang war er kein Weintrinker, aber die Gespräche mit den Weinbauern sensibilisieren seine Geschmacksnerven. Immerhin hilft ihm sein chemisches Wissen, die Fachsimpeleien der Winzer zu verstehen. Es mag diese spezifische Neugier sein, die den ehemaligen Potsdamer Studenten auszeichnet und ihm Türen öffnet, die andere gar nicht wahrnehmen würden. Demnächst will er die örtliche Winzerkapelle aufnehmen, als Geschenk an die neuen Nachbarn. Denn natürlich installiert das Paar ein Tonstudio im neuen Heim. Auch wenn der Lebensweg noch einige Abstecher bieten mag, die Musik und die Idee von freier Radiokultur werden wohl auch weiterhin beider Leben bestimmen.

Im Internet:

http://knut.klingt.org

Lene Zade

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