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Pschologin im Interview über sexuelle Übergriffe: „Die dunkle Parkecke ist ein Mythos“

Die Psychologin Lydia Sandrock spricht im PNN-Interview anlässlich einer Fachtagung über sexuelle Übergriffe auf Frauen, die Stigmatisierung der Opfer und die Möglichkeit einer vertraulichen Spurensicherung nach einer Vergewaltigung.

Stand:

Auf einer Fachtagung, die das Frauenzentrum am heutigen Donnerstag organisiert, geht es um das Thema: Medizinische Akutversorgung nach Vergewaltigung mit vertraulicher Spurensicherung. Mediziner, Juristen, Psychologen und Sozialarbeiter tauschen sich dort über ihre bisherigen Erfahrungen aus.

Frau Sandrock, zu Ihnen kommen häufig Frauen, die vergewaltigt wurden oder andere Formen sexueller Gewalt erlebt haben. Warum gehen viele dieser Frauen direkt nach der Tat nicht zur Polizei?

Es gibt zum einen traumarelevante Barrieren. Die Frauen befinden sich im Schockzustand, verdrängen oder leugnen die Tat, die auch einen krassen Einschnitt in die Selbstbestimmung bedeutet. Es gibt aber auch soziale Barrieren, denn die Täter sind den Frauen meist bekannt. Über 50 Prozent der Vergewaltigungen werden von Partnern begangen. Nur 14,5 Prozent der Täter sind Fremde. Je näher der Täter einem steht, desto höher ist die Hemmschwelle, die Tat anzuzeigen, sich Hilfe zu holen oder überhaupt jemandem davon zu erzählen. Und es gibt natürlich die Vorurteile, die bei sexueller Gewalt auftauchen: Den Frauen wird vorgeworfen, sie hätten den Täter gereizt, wären in irgendeiner Form selbst schuld.

Mit welchen Fragen kommen die Frauen?

Die meisten Frauen kommen Wochen, Monate und zum Teil Jahre nach der Tat. Viele kommen, weil sie die Tat verarbeiten müssen, aber das allein nicht schaffen. Eine Vergewaltigung zerstört massiv das eigene Sicherheitsgefühl. Es ist ein Trauma, das bewältigt werden muss. Manchmal wird auch die Frage gestellt, ob man in der Ehe das Recht hat, ,Nein’ zu sagen. Natürlich hat man das! Einige Frauen kommen mit der Frage, ob sie den Täter noch anzeigen können. Rein theoretisch ja – Vergewaltigung verjährt erst nach 20 Jahren. Aber wenn die Spuren nicht kurz nach der Tat gesichert wurden, hat eine Anzeige so gut wie keine Chance.

Seit 2014 gibt es in vier Brandenburger Kliniken die Möglichkeit der vertraulichen Spurensicherung nach einer Vergewaltigung. Was geschieht dort?

„Ich brauche dringend das Gespräch mit einer Gynäkologin“, das ist der Schlüsselsatz, den Frauen bei der Aufnahme im Krankenhaus sagen sollten. Bei Männern ist es der Urologe. Die Betroffenen werden dann sofort auf die gynäkologische oder urologische Station begleitet und ohne oder nach sehr kurzer Wartezeit behandelt. Die Ärzte und Ärztinnen sind darauf geschult, eine rechtssichere Beweissicherung durchzuführen. Auf einem Dokumentationsbogen werden Verletzungen und Aussagen festgehalten. Mit einer Chiffre-Nummer werden die Unterlagen und Beweismittel aufbewahrt. Nachdem die Spuren gesichert sind, können die Frauen erst einmal zur Ruhe kommen. Später, wenn sie zu einer Anzeige bereit sind, kann die Polizei die Unterlagen abrufen.

Warum ist dieses Angebot so wichtig?

Die Hemmschwelle, sich nach einer Vergewaltigung Hilfe zu suchen, ist sehr hoch. Nur acht Prozent der Fälle werden angezeigt, davon kommt es nur in 13 Prozent zu einer Verurteilung. Häufig werden Täter freigesprochen, weil die Beweislage so schlecht ist. Wir hoffen, dass sich mit der vertraulichen Spurensicherung mehr Frauen nach einer Vergewaltigung ärztliche Hilfe suchen. Zwei Drittel der Frauen lassen sich bisher nicht medizinisch versorgen. Eine Vergewaltigung ist aber abseits der Frage nach der Beweismittelsicherung ein medizinischer Notfall, der gravierende Folgen haben kann.

Welche Erfahrungen haben Sie bisher mit dem neuen Angebot gemacht?

Große Erfahrungswerte gibt es noch nicht, da es das Angebot erst seit einem guten Jahr gibt. Was bereits deutlich wird, ist aber, dass es zwischen der medizinischen und der beratenden Ebene eine bessere Vernetzung gibt und die Frauen schneller in das Hilfesystem eingebunden werden können. Die Öffentlichkeitsarbeit muss nun endlich auch mit den Mythen aufräumen, dass eine Vergewaltigung in der dunklen Parkecke stattfindet. Es geschieht eben meistens in der eigenen Wohnung.

Das Interview führte Heike Kampe

Eine vertrauliche Spurensicherung bieten das „Ernst von Bergmann“-Klinikum Potsdam, das Klinikum Frankfurt (Oder), das Carl-Thiem-Klinikum Cottbus und die Ruppiner Kliniken in Neuruppin an.

ZUR PERSON: Lydia Sandrock (54) ist Psychologin und seit mehr als 30 Jahren in der Frauenberatung tätig. Seit 2004 arbeitet sie in der Frauenberatungsstelle des Autonomen Frauenzentrums Potsdam e.V.

Heike Kampe

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