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Wie löst man einen Geheimdienst auf? Sie saßen am Donnerstagabend im Podium: Volker Wiedersberg, Christian Grauer und Thomas Wernicke (v.l.n.r.) Ebenso dabei waren Manfred Kruczeck, Jes Möller und Gisela Rüdiger.

© Andreas Klaer

Von Guido Berg: Die eigentliche Maueröffnung

Podiumsdiskussion in der Lindenstraße 54 über das Ende der Staatssicherheit in Potsdam

Stand:

Die Verkollerungsanlage in der Geschwister-Scholl-Straße lief auf Hochtouren. Täglich fuhren Lkws vor. Mit Hilfe dieser Mühle auf einem Hinterhof vernichtete die Staatssicherheit ihre Akten; sie wurden gewässert und zu einem Zellulosebrei zerlegt. Ab Anfang November 1989 „begann die Stasi, sich auf die Stunde Null vorzubereiten“, berichtete Thomas Wernicke auf einer Podiumsdiskussion in der Gedenkstätte Lindenstraße 54. Thema war die Auflösung des DDR-Geheimdienstes in der Stadt Potsdam. Am 6. November habe Stasi- Chef Erich Mielke den Beginn der Aktenvernichtung befohlen. Anfang Dezember, so Wernicke, reagierte das Neue Forum. Am 5. Dezember betraten die Bürgerrechtler das Dienstzimmer von Oberbürgermeister Bille, der apathisch gewirkt habe und es hinnahm, dass mit seinem Diensttelefon Volkspolizei, Staatsanwaltschaft und die Presse darüber informiert wurden, was an diesem Tag passieren sollte, in Potsdam und in anderen Bezirksstädten der DDR: Die Besetzung der Stasi-Bezirksverwaltung. Nach Verhandlungen mit Stasigeneral Schickart stürmten Bürger Potsdams „unter der Führung von Gabriele Grafenhorst“ in die Bezirksverwaltung in der Hegelallee, so Wernicke, damals Mitglied des neuen Forums, und begannen damit, die Räume zu versiegeln.

Zwei Gremien wurden gegründet, um die Auflösung der Stasi in Potsdam zu begleiten: Der Rat der Volkskontrolle und die „Kommission über die öffentliche Kontrolle zur Sicherung, Sichtung und teilweisen Vernichtung der Akten der Staatssicherheit“, in der auch Vertreter staatsnaher Organisationen mitarbeiteten – und deren fürchterlichen Namen noch einmal zu nennen sich Volker Wiedersberg, damals junger Bürgerrechtler, in der Podiumsdiskussion schlicht weigerte. Wiedersberg berichtete, es sei für ihn die eigentliche Maueröffnung gewesen, als er am 5. Dezember 1989 mit seinem Fahrrad von der Arbeit kommend direkt durch die Toreinfahrt der Stasi-Bezirksverwaltung rauschte. „Irrsinn“, erinnert er sich: „Ich war 20 Jahre alt, hatte keine Ahnung von nichts und habe Staatsanwälten Anordnungen erteilt“. Seine Haltung war: Da niemand wusste, welche Akten wichtig sind, sollten alle aufgehoben werden. Aber andere hatten Angst vor der Gefahr einer Lynchjustiz; deshalb sei die Kommission dagegen gewesen, dass Stasi-Akten an die Öffentlichkeit gelangen. „Ich aber wollte, dass jeder seine Akte einsehen kann.“

Ein desillusioniertes Bild der Stasi-Auflösung durch die Bürger zeichnete Christian Grauer, damals SDP-Mitglied: „Wir haben zu keiner Zeit die Kontrolle gehabt.“ Sogar noch bis Anfang Januar 1990 seien solche Akten vernichtet worden, die die Identifikation von Informellen Mitarbeitern zugelassen hätten. Grauer: „Die waren uns meilenweit voraus.“ Der Stasi-Kreisdienststellenleiter habe es einmal so gesagt: „Als wir soweit waren, haben wir sie reingelassen.“ Gemeint sind die Bürger. Jes Möller, damals SDP-Mitglied, heute ebenso Richter wie Grauer, bewertet die Ereignisse übergreifender: Die Auflösung der Stasi sei ein Nebenschauplatz gewesen. Das Wichtigste sei die Realisierung der ersten freien Wahlen im März 1990 gewesen.

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