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Landeshauptstadt: Die Einraumwohnung

Rosemarie Preuß lebt seit 1971 im Wohnblock am Staudenhof. Gegen den angekündigten Abriss wehrt sie sich

Stand:

Innenstadt - „Ich such’ die DDR und keiner weiß, wo sie ist.“ So hieß es 1991 in einem Text der Rockgruppe „Feeling B“. Wer je einmal im Wohnblock am Staudenhof war, der hätte allen Grund, „doch, ich!“ zu rufen. Jedenfalls wüsste er einen Ort, wo etwas von ihr überlebt hat. Obwohl 1994 teilsaniert, wirkt das Haus DDR-belassen, einschließlich der Fahrstühle vom VEB Sächsischer Brücken- und Stahlhochbau Dresden. Aluminiumschildchen im Fahrstuhlinneren sollen glauben machen, die Lifte stammen aus dem Jahr 1987. Rosemarie Preuß aber ist sich sicher, dass heute noch die ersten Fahrstühle von 1971 ihren Dienst tun, als das Haus Am Alten Markt 10 gebaut wurde. Sicher wurden 1987 nur die Schilder ausgetauscht.

Rosemarie Preuß muss es wissen. Die 75-Jährige wohnt seit 40 Jahren in dem Betonbau. Sie ist Erstmieterin ihrer Einraumwohnung, 30,25 Quadratmeter groß. „Ich war überglücklich, als ich den Wohnungsschlüssel bekam“, erinnert sie sich. Ihre Dissertation hat sie 1969 noch in der Meistersingerstraße 2 geschrieben, in einem Dienstmädchenzimmer unterm Dach. Die B-Promotion der Pädagogik-Dozentin folgte 1976. In dem Jahr wurde auch ihre Schrankwand aufgebaut, in der Bücher stehen von Günther Görlich, Christa Wolf, Thomas Mann, Hermann Kant, aber auch die Karl-Marx-Biografie von Franz Mehring und ein Buch über Maxim Gorki, das sie nach Ende der achten Schulklasse geschenkt bekam.

Irgendwann in diesem Jahrzehnt soll das Haus abgerissen werden. Wann genau, weiß niemand zu sagen. Die Planungswerkstatt Potsdamer Mitte von 2006 und das Leitbautenkonzept von 2010 sehen an der Stelle des Wohnhauses von Rosemarie Preuß und fast 200 weiterer Mieter ein neues Wohnkarree vor. Wenn das Stadtschloss 2013 steht und die Alte Fahrt bebaut ist, geht es weiter mit der Wiedergewinnung der Potsdamer Mitte, die Fachhochschule wird geschleift und dann droht auch dem Staudenhof die Abbrissbirne.

Als die Eigentümerin Pro Potsdam in ihrer Mieterzeitung im Februar 2011 mitteilte, sie plane keinen Abriss, weil es nicht wirtschaftlich sei, die 182 kleinen Wohnungen aufzugeben, wurde sie vom Baubeigeordneten Matthias Klipp (Bündnisgrüne) zurückgepfiffen. Aus „städtebaulicher und funktionaler Sicht“ entspräche der Wohnblock langfristig nicht den Ansprüchen, die an einen innerstädtischen Stadtraum in unmittelbarer Nähe zur Nikolaikirche, zum neuen Landtag und zum neubebauten Havelufer gestellt werden, ließ Klipp mitteilen.

Den Ansprüchen von Rosemarie Preuß hat das Haus und ihre Wohnung in der fünften Etage immer genügt. Bad mit Dusche, Küchennische, Wohnzimmer mit Couch für den Tag und Liege für die Nacht, Balkon mit herrlichem Blick auf die Nikolaikirche. Als sich am 9. Mai eine Bürgerinitiative gegen den Abriss des Staudenhofes gründet, ist Rosemarie Preuß mit dabei. 600 Unterschriften hat die Initiative gesammelt, im Herbst werden sie dem Oberbürgermeister und der Stadtverordnetenversammlung übergeben. „Wenn hier 200 Menschen wohnen, kann man nicht einfach über deren Köpfe hinweg entscheiden“, findet die belesene Frau.

Die Argumente der Leitbauten-Befürworter zählen für sie nicht. In den 1970er Jahren war Wohnraum knapp in Potsdam, die DDR habe gebaut mit den Mitteln, die sie hatte. Das sollte jeder aus der Geschichte heraus verstehen und akzeptieren. Es wäre „volkswirtschaftliche Verschwendung“, den Staudenhof-Block abzureißen. Zumal kleine Wohnungen in der Innenstadt noch immer rar sind. Einige der jüngst zugezogenen Mieter hätten vorher im „Haus des Reisens“ gewohnt, das bereits abgerissen wurde. Rosemarie Preuß wehrt sich gegen das Vorurteil, ihr Haus sei ein „Rentner-Block“. Der jüngste Mieter ist laut Unterschriftenliste Jahrgang 1988.

55 Jahre alt war Rosemarie Preuß, als sie ihre Anstellung an einem pädagogischen Akademie-Institut in Berlin verlor, nach einer dreivierteljährigen Warteschleife. Dem folgten dreieinhalb Jahre Arbeitslosigkeit, dann die Rente. Wende und Wiedervereinigung haben ihr die besten Jahre als Wissenschaftlerin genommen und den würdevollen Übergang in den Ruhestand. Jetzt soll ihr auch noch die Wohnung genommen werden. „Wer weiß, ob ich das noch erlebe“, fragt sie sich, „aber es beunruhigt“.

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