zum Hauptinhalt
Hans-Georg Baaske, heute Pfarrer in Caputh, mit einer Wahlliste der Kommunalwahl aus dem Jahr 1989.

© Andres Klaer

Von Peer Straube: Die Folgen der Arroganz

Ex-Baustadtrat Detlef Kaminski half damals, den Wahlbetrug aufzudecken. Und, ihn offiziell zu beweisen

Von Peer Straube

Stand:

Die erste Provokation erlaubt er sich um kurz vor 18 Uhr. „Da bin ich nämlich erst wählen gegangen“, sagt Detlef Kaminski. Und er ist – Provokation Nummer zwei – gleich im Wahllokal geblieben. Zur Überwachung der Auszählung.

So wie Kaminski machen es viele an diesem 7. Mai 1989. Die DDR hält Kommunalwahlen ab, es sollen ihre letzten werden. In den Kreis- und Bezirksleitungen, und ganz oben, im Politbüro der SED, fühlt man sich sicher. Die Kandidaten der Nationalen Front, in der neben der SED auch alle Blockflöten-Parteien zusammengefasst sind, werden haushoch gewinnen. Wie immer. Doch es geschieht Unerhörtes an diesem Tag.

Der Anteil der Nein-Stimmen ist hoch, viel zu hoch für das Regime. „10 Prozent und ein paar zerquetschte“, sagt Kaminski, seien es in seinem Wahllokal gewesen. Er freut sich, „dass so viele den Arsch in der Hose hatten“. Doch im Fernsehen werden die üblichen Zahlen ausposaunt. Eine 99 vor dem Komma. „Grenzenlose Wut“ empfindet Kaminski. „Sollen wir abhauen aus dem Osten, wie unsere Freunde?“, fragt er sich. „Nein, wir bleiben.“ Seine Frau vermittelt dem „Unorganisierten“ den Kontakt zu Gleichgesinnten. Es ist die Gruppe „Kontakte“ um den Gemeindepädagogen der Babelsberger Friedrichskirche, Hans-Georg Baaske. Auch von dort sind Jugendliche in die Wahllokale ausgeschwärmt, um die Auszählung zu überprüfen. Obwohl sie nur gut die Hälfte aller Potsdamer Wahllokale aufsuchen können, ergibt sich überall eine „deutliche Diskrepanz bei den Nein-Stimmen“, sagt Baaske. Eine Diskrepanz zu den offiziellen Zahlen. Dass sich das überhaupt beweisen ließ, lag an einem Stück Demokratie, dem das Regime offenbar keine Bedeutung beimaß. „Die Auszählung war öffentlich“, erinnert sich Baaske. Alle Wahlvorsteher nannten die korrekten Zahlen. Überraschung bei den Oppositionellen. „Wir konnten kaum glauben, wie primitiv dieser Betrug organisiert wurde und wie einfach es war, ihn aufzudecken“, sagt Baaske. Diese Arroganz sollte schnell ein erstes Opfer fordern.

Kaminski und seine Mitstreiter wollen den Wahlbetrug öffentlich machen. Es kommt zu einem Gespräch bei Oberbürgermeister Wilfried Seidel. „Ich habe ihn so provoziert, dass er eine Originalurkunde aus einem Wahllokal geholt hat.“ Die Zahl der Nein-Stimmen war identisch mit der, die die Wahlbeobachter notiert hatten. „Damit hatten wir den Beweis, dass der Betrug nicht in den Wahllokalen stattgefunden hatte, sondern in der Ebene darüber“, frohlockt Kaminski. Nach seinem Wissen ist dies der DDR-weit „einzige Fall“, in dem die Zahlen von offizieller Seite bestätigt werden. Ein Fehler, der Seidel den Kopf kostet. Nur Tage später wird er abberufen. Am 9. Mai schickt der Schlaatzer Pfarrer Hans-Joachim Schalinski die Liste mit den beobachteten Wahlergebnissen an den Oberbürgermeister. Von „eiskaltem Wahlbetrug“ ist in dem Brief die Rede, Aufklärung wird gefordert. Kaminski erstattet Anzeige beim Generalstaatsanwalt der DDR.

Die Stasi macht sich Sorgen. In einem Bericht vom 16. Mai reportieren die Spitzel bei Zusammenkünften der Gruppe „Kontakte“ „innerhalb kürzester Frist“ einen rasanten Anstieg der Teilnehmerzahlen „von 25 auf 100“. Kaminski attestiert die Stasi wenig später fast anerkennend eine Profilierung zu einer „feindlich-negativen Führungskraft im Kirchenkreis Potsdam“. Angst vor der Staatsmacht hat er da längst nicht mehr. „Auf der Grundlage des DDR-Rechtssystems wollte ich denen da oben das Leben so schwer wie möglich machen.“ Den „Psychoterror“, sagt Kaminski, habe er ausgehalten. Nur einmal wurde es eng. Seine Tochter wurde in ihrer Schule zum Direktor bestellt. Ein Stasi-Mitarbeiter wollte sie über das Treiben ihres Vaters ausfragen. Der Klassenlehrer, ein Freund Kaminskis, habe ihn benachrichtigt, sagt er. „Als ich ins Zimmer stürmte, war der Stasi-Mann schon durch die Hintertür geflüchtet“, erzählt Kaminski und man hört noch immer den Zorn in der Stimme. „War für ihn auch besser, sonst hätte er einen Abgang aus dem Fenster gemacht.“

Auch, wenn die Proteste gegen den Wahlbetrug nichts nützen, der Anfang vom Ende der DDR ist eingeläutet. Die Zahl der Enttäuschten wuchs in dem Maß, wie die Hemmschwelle für laut geäußerte Regimekritik abnahm. „Ohne den Wahlbetrug“, ist sich Kaminski sicher, „wäre die Hälfte der Opposition gar nicht dazu geworden.“

Baaske sieht das genauso. „Der Wahlbetrug war so klar und eindeutig, dass wir nicht das Gefühl hatten, es könne uns irgend etwas passieren.“ Einmal noch, im Sommer, wird Baaske mulmig. Es gibt Gerüchte über bevorstehende Verhaftungen. „Wir haben jeden Tag versucht, uns gegenseitig anzurufen“, sagt er, „um zu kontrollieren, ob alle noch frei sind.“

Kurz vor der Wende hat Kaminski seinen berühmten Auftritt in der Stadtverordnetenversammlung, die im „Kahleberg“ tagt und live im Radio übertragen wird. „Als dort einer sagte, bei der Wahl wurde nicht gelogen, ist mir der Kragen geplatzt“, erinnert sich Kaminski. Er fährt hin, schnappt sich das Mikrofon und ruft: „Die lügen alle wie gedruckt.“ Wenige Wochen später fällt die Mauer. Die Kommunalwahl war zum ersten Sargnagel für die DDR geworden. „Viele kleine Leute an vielen kleinen Stellen“, sagt Baaske, „schaffen große Dinge.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })