Landeshauptstadt: Die Fremden aus dem Parlament
Die EU-Abgeordneten kennt kaum einer. Doch sie sagen: „In Europa bewegt man mehr.“
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Die EU-Abgeordneten kennt kaum einer. Doch sie sagen: „In Europa bewegt man mehr.“ Straßburg/Potsdam - Als hätte ein gewaltiges, gläsernes Schiff angelegt, liegt das Europäische Parlament im Knick des Rheinzuflusses Ill, der sich durch Straßburg schlängelt. Die äußere Transparenz aber ist trügerisch. Drinnen gleicht das Bauwerk einem Labyrinth. Passend, denn ganz ähnlich verhält es sich mit Europa. Man kann sich schnell verlaufen. „Hier lernt man, bescheiden zu sein“, sagt Anne-Karin Glase. Die Sozialarbeiterin aus Neuruppin wurde 1994 für die Christdemokraten ins Europäische Parlament gewählt. Was sie dort getan hat, ist aber selbst in ihrem Heimatort den meisten verborgen geblieben. Schwarzarbeit, Elternurlaub, die Entsenderichtlinie zur grenzüberschreitenden Arbeit, das waren Glases große Gesetzesvorlagen – oder, wie man auf europäisch sagt, Berichte. Wann und unter welchen Bedingungen ein Pole in Brandenburg arbeiten darf, darüber hätten die Leute schon gesprochen in Neuruppin. „Das habe ich gemacht“, hat Glase ihnen dann gesagt. Nur vorstellen konnte sich das keiner so recht. Jetzt hat sie Abschied genommen von Straßburg und Brüssel. Ihre Partei wollte statt der Sozialexpertin lieber einen Wirtschaftsmann, den Hennigsdorfer Christian Ehler, ins Rennen um die Mandate für das neue Europaparlament schicken. „Es war die spannendste Zeit meines Lebens“, sagt Anne-Karin Glase. Norbert Glante will nicht gehen. Der SPD-Mann aus Werder (Havel) kandidiert zum dritten Mal für einen Sitz im Europaparlament. Auf Listenplatz 20 steht er, und deshalb nicht auf dem Stimmzettel. Denn da sind, auch aus Platzgründen, nur die Namen der ersten zehn Kandidaten zu lesen. Trotzdem wirbt Glante auf Wahlplakaten mit dem eigenen Konterfei. Man kennt ihn in Potsdam und der Mittelmark, schließlich war er hier vor zehn Jahren Landrat. Das ist ein großer Vorteil, weiß er, denn die meisten Europaabgeordneten sind für ihre Wähler Fremde. Festgelegte Wahlkreise gibt es nicht, Glante ist der Mann für das ganze Flächenland Brandenburg. Und Elisabeth Schroedter, die ebenfalls schon europaerfahrene Kandidatin der Grünen, muss theoretisch sogar alle ostdeutschen Bundesländer bedienen. Ein nahezu unmögliches Unterfangen. „Problem der verringerten Wahrnehmung zu Hause“ nennt Glante diplomatisch, was der gemeine Wähler ihm oft entgegenbringt: Ignoranz. Dagegen müssten Europaabgeordnete sich „ein dickes Fell auf der Seele wachsen lassen“. Den Straßburg-Korrespondenten der Medien gehe es im übrigen genauso: „Die sind auch enttäuscht, wenn ihre Beiträge wieder mal nicht veröffentlicht werden.“ Auch wenn er seine Arbeit daher weit gehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit tut – „ich habe es nie bereut, ins Europaparlament gegangen zu sein“, sagt Glante. „Ich fühle mich nicht abgeschoben.“ Der Spruch „Hast’n Opa, schick’ ihn nach Europa“ gelte lange nicht mehr. „Ich möchte mit meinen Bundestags- oder Landtagskollegen nicht tauschen“, sagt der SPD-Mann. „Hier kann man wesentlich mehr bewegen.“ Die politischen Einflussmöglichkeiten des Einzelnen seien in Straßburg viel größer, meint auch Gerhard Schmid (SPD), bisher Vizepräsident des Europäischen Parlaments. „Man kann ein Gesetz um 180 Grad drehen, wenn man’s gut macht.“ Feste Koalitionen gebe es nur formell, Mehrheiten für die Gesetzesvorlagen, die von der Kommission ins Parlament kommen und dort von den jeweiligen Abgeordneten, die zum „Berichterstatter“ gewählt sind, verändert werden, müsse man sich suchen. Auch der Brandenburger Sozialdemokrat Glante und seine CDU-Kollegin Glase kannten da keine Berührungsängste. „Dass wir ein Grenzlandförderprogramm haben, hat Brandenburg uns zu verdanken“, so Glante. „Wir sind hier gemeinsam wie die Kulis über den Flur gerannt und haben in 30 Minuten 32 Unterschriften gesammelt.“ Wie unmittelbar die Entscheidungen der Europaparlamentarier sie betreffen, komme bei den Bürgern oft nicht an, meint Glante: „70 bis 80 Prozent aller Gesetze werden auf EU-Ebene beschlossen.“ Allerdings würden sie erst zwei oder drei Jahre später in deutsches Recht umgesetzt und erst dann in der Öffentlichkeit diskutiert – abgekoppelt von den Entscheidungsprozessen in Straßburg. „Die jetzige Diskussion um eine europäische Verfassung hilft vielleicht, wirkt identitätsstiftend“, hofft der Europapolitiker. Nicht zuletzt soll darin auch dem Parlament mehr Macht zugesichert werden. Und warum soll der Brandenburger morgen zur Wahlurne gehen? „Es ist wichtig, eine Präferenz abzugeben“, sagt Glante. Anstatt die nationalen Parteien abzustrafen, könne der Wähler bestimmen, welche politische Richtung die EU-Gesetze bekämen. „Und ohne uns Parlamentarier läuft in Europa nichts mehr.“
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