Von Jan Brunzlow: Die Gemeinschaft als Familie
Auf Hermannswerder leben zwölf Erwachsene und acht Kinder auf einem Grundstück mit Haus und acht Bauwagen. Ihre Entscheidungen treffen sie salomonisch, die einzige Regel: gegenseitige Rücksichtnahme
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Ihr Wohnzimmer ist vor der Tür. Draußen, wo die Kinder im Sandkasten spielen, der mit einem Tarp, einer Art Plane, überspannt ist. Ein paar Meter weiter steht Jaco vor seinem Wagen, inmitten seines Wohnzimmers. Bücher über die Natur liegen auf dem kleinen Küchentisch, als Boden dienen Baumscheiben aus Eiche. Jaco ist ein drahtiger Mittdreißiger, der aus den Niederlanden kommt und nach dem Studium in Greifswald seinen Weg nach Potsdam fand. Seit fünf Jahren lebt der Tischler in einem der ausgebauten Bauwagen auf Hermannswerder. Erzählt er über das Leben an diesem Ort, gerät er ins Schwärmen. Von der Natur und vom Leben im Einklang mit ihr. Vom Fenster aus kann er gemeinsam mit seiner Tochter seit einigen Tagen einem Nachtigall-Pärchen zusehen, wie sie erst ihre Eier ausgebrütet haben und nun die Jungen groß ziehen. „Wo kann man das sonst in der Stadt?“, fragt er.
Nicht allein das macht diesen Ort zu einem besonderen. Es ist Sonntag, ein Dutzend Erwachsene und Kinder sitzen an einem Tisch, der so groß ist wie die Küche einer Neubauwohnung. Käse, Salami, Marmelade und Kaffee sind serviert, der Brotkorb ist mit Butterblumen verziert, Obst ist frisch aufgeschnitten. Sie gehören zu einer Wohngemeinschaft mit zwölf Erwachsenen und acht Kindern, die auf einem Grundstück mit einem Haus und acht Bauwagen zusammenleben. „Wir verstehen Familie als Zusammenschluss von Menschen“, sagt Stephanie. Kinder würden hier die unterschiedlichsten Formen des Zusammenlebens kennen lernen. Allein erziehende Väter oder Mütter, Paare sowie die Freundschaften untereinander. „Das erweitert den Horizont“, sagt die Pädagogin.
Sie wohnt in einem der Wagen und gießt ihre Blumen und Kräuter. Es sei das erste Jahr, in dem die kleinen Vorgärten der Wagen aussehen, als gebe es den Wettbewerb für die schönste Veranda. Stephanie – in der Gemeinschaft wird sich nur mit Vornamen angesprochen – ist freiberuflich, wie die meisten anderen hier auch. Jaco beispielsweise ist selbstständiger Tischler, Frank studiert Geoökologie an der Uni Potsdam, Bille ist Comiczeichnerin, Nadine Physiotherapeutin und Chica Theaterpädagogin.
Für Chica Schmidt ist es das letzte freie Wochenende vor dem Sommer. Sie lebt mit ihren beiden Sprösslingen in der Gemeinschaft. Beruflich arbeitet sie mit Kindern an Schulen oder als Figurendarstellerin und Schauspielerin auf Festen und Spektakeln. Ab der kommenden Woche geht es wieder los, dann tourt sie an den Wochenenden über die einzelnen Märkte in deutschen Kleinstädten, die in den letzten Jahren immer beliebter geworden sind. Gaukler, Schauspieler, Mittelalter. Ihre Kinder Laris und Mattis sind dann bei ihrem Vater. Sie sollen nicht jedes Wochenende an einem anderen Ort sein. Einzig zum Plattenburg-Spektakel werden sie mitreisen, damit „sind sie aufgewachsen“. Chica kennt das Reisen, sie war selbst lange auf der Suche nach dem richtigen Lebensort. Aus Hamburg kam sie irgendwann nach Potsdam, wohnte in Babelsberg in einer Wohnung und zog vor mehr als zwei Jahren zu Freunden in die Gemeinschaft auf Hermannswerder.
In Chicas Zimmer hängen Masken, mehr als 20 wahrscheinlich, alle selbst hergestellt und für die Vorstellungen bereit. Märchen inszeniert sie, aber nicht wie sie die Kinder aus den Büchern kennen. Da wird dann schon mal die Prinzessin zum Frosch und nicht der Frosch zum Prinz. Auch sonst findet sie, man müsse nicht jedes Märchen so erzählen, wie es die Brüder Grimm einst aufgeschrieben haben. Denn welche Art von Pädagogik beispielsweise hinter der Geschichte von Hänsel und Gretel steckt, ist für sie ebenso schwer nachvollziehbar wie für viele andere auch. Also wird improvisiert, um dem Ganzen einen Sinn zu geben.
Chica ist 36 Jahre alt und arbeitet auch an Potsdamer Schulen. Sie lebt gerne an diesem Ort, die Nähe zu Berlin sei toll und auch die kulturelle Vielfalt aus der Bundeshauptstadt schwappe nach Potsdam. Ihre Kinder Laris und Mattis sind neun und sieben, beide gehen auf die Freie Schule am Schlaatz. Mit den Schulen ist das so eine Sache hier auf Hermannswerder. Die kleine Halbinsel gehört zum Einzugsgebiet der Waldstadt-Grundschule, die sechs Kilometer entfernt ist. Keines der Kinder geht dahin, alle Eltern haben sich in Richtung Innenstadt oder freie Schulen orientiert. Die Kinder in der Gemeinschaft sind zwischen vier und neun Jahren alt, Laris ist der älteste. Er zieht sich gerne eine der Masken seiner Mutter über und versucht sich als Mime.
Eine kleine Bühne steht auf dem Areal am Haus, daneben eine Kräuterspirale. Ansonsten wird vieles der Natur überlassen. Einzig eine kleine Ecke hinter dem Haus ist für Kulturpflanzen vorgesehen. Radieschen aus dem Frühbeet, Kohlrabi, Salat und anderes Gemüse sind angepflanzt. Frank, der angehende Geoökologe, zerstampft in einem Eimer ein paar Pflanzen im Wasser. „Brennnesseljauche“, sagt er. „Hilft gegen Schnecken“. Davon gibt es hier viele, für Frank der perfekte Ort, sein ökologisches Gifte auszuprobieren. Es soll als Dünger wirken und gleichzeitig die schleimigen Kriechtiere abhalten.
Der Garten ist ein Projekt von einigen aus der Gemeinschaft, nicht jeder muss hier alles machen. Sie leben zusammen, treffen sich jeden Abend mit den Kindern zum gemeinsamen Abendbrot und halten einmal in der Woche Rat ab. Dann werden die wichtigsten Dinge besprochen und entschieden. Gemeinsam. Nichts wird angestoßen, ohne dass die anderen ihr Einverständnis dazu geben. Starre Gesetze gebe es jedoch nicht, sagt Chica Schmidt. Einzig „gegenseitige Rücksichtnahme ist als ungeschriebene Regel“ festgelegt.
In den letzten Jahren haben sich die Bewohner der Gemeinschaft mehr und mehr geöffnet. Seit sieben Jahren steht die Wagenburg auf dem Grundstück, inzwischen beteiligen sie sich am Spielemarkt, haben mit einer Lesung am Lagerfeuer am offenen Adventskalender auf Hermannswerder teilgenommen und veranstalten selbst einmal im Monat ein Kulturfrühstück auf ihrem Grundstück. Mehr als 230 Gäste seien gekommen und hätten gemeinsam mit ihnen gefrühstückt. Das Angebot sei offen für alle, sagen die Bewohner.
Das Plakat des Duos Hand in Hand aus Potsdam, das an einem Sonntag im April hier gespielt hat, hängt noch im Wohnzimmer von Jaco, dem Niederländer. Er hat sich den Wagen vor fünf Jahren hier gekauft und immer wieder ein bisschen daran gearbeitet. Hinter seinem etwa zehn Meter langen Haus mit dem Wohnzimmer im Freien ist die Hängematte gespannt, das Holz liegt gehackt unter einem Dach. Im Winter, wenn die Temperatur draußen unter Null fällt, kuscheln sich die Bewohner in ihre Wagen oder Zimmer im Haus. Oft werden sie gefragt, wie es im Winter an diesem Ort ist. Schön, ist ihre Antwort. Die Öfen in den Wagen strahlen eine wohlige Wärme ab, schnell ist es in den kleinen Räumen warm. Genauso schnell aber auch wieder kalt. Bäder und Toiletten sind im Haus, ebenso die Küche. Nun soll noch ein Seminarraum entstehen, für Veranstaltungen. Auch das sind Entscheidungen, die gemeinsam getroffen werden. Und wenn die Waschmaschinen oder Kühlschränke kaputt sind, muss jeder seinen Anteil zahlen, damit wieder neue gekauft werden können.
Viel haben sie noch vor in den nächsten Jahren. Doch die Zukunft des Wohnprojektes ist derzeit nicht sicher. Das Grundstück gehört der Stadt, Jaco und seine Mitbewohner hoffen auf eine Vertragsverlängerung, um für immer bleiben zu können. Dann wäre es wie in einer der Geschichten von Chica. Obwohl nicht alles so ist wie vorher irgendwo aufgeschrieben, ein gutes Ende gibt es immer. Sie sagt: „Ich liebe Happy Ends“.
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