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Sport: Die Goldsaat von Tokio

Jürgen Eschert wurde vor 50 Jahren Olympiasieger

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Wenn Sebastian Brendel vom KC Potsdam bei der Kanu-Weltmeisterschaft in Moskau mit der Bürde des Favoriten an den Start geht, kann einer die Schwere der Last besonders nachvollziehen. Die Erinnerungen daran sind ein halbes Jahrhundert alt. Olympische Sommerspiele 1964 in Tokio: Der Potsdamer Kajak-Spezialist Jürgen Eschert gilt als haushoher Favorit. „Diese Rolle und der eigene Anspruch, zu gewinnen, sind psychisch eine unglaubliche Belastung“, sagt Eschert. Er hat dem Druck standgehalten. Vor 50 Jahren wurde er im Einer-Canadier über 1000 Meter Olympiasieger und schrieb damit das erste Kapitel einer bis heute währenden Erfolgsgeschichte des Potsdamer Sports.

Das Finale vom 22. Oktober 1964 ist dem heute 72-Jährigen noch allgegenwärtig. „Es hat alles super geklappt“, erinnert sich Eschert. Den Begriff „Tunnelblick“ gab es damals noch nicht, aber er sei in jener Isolation gewesen, die heute umschrieben wird, wenn man im Tunnel sei: „Ich wollte vor dem Wettkampf mit keinem reden und nur mit mir allein sein“, erzählt Eschert. In den entscheidenden 4:35,14 Minuten brachte er all das zur Perfektion, was er sich Jahre zuvor angeeignet hatte: Kraft, Technik, Taktik, Willensstärke.

Eschert, der als Achtjähriger in Magdeburg mit dem Paddeln begonnen hatte und 1960 als einer der zehn besten DDR-Nachwuchskanuten zum damaligen Armeesportklub zunächst nach Leipzig und drei Jahre später nach Potsdam kam, suchte ständig nach optimalen Trainingsmethoden. Fündig wurde er bei dem neuseeländischen Lauftrainer Arthur Lydiard, der eine Ausdauermethode entwickelte, nach der viele Weltklasseläufer trainierten und die bis heute Gültigkeit hat. Eschert trainierte für die 1000 Meter im Canadier wie ein 1500-Meter-Läufer: Statt kurzer, schneller Intervalle paddelte er lange Strecken in einem hohen Tempo. Täglich bis zu insgesamt 45 Kilometer. Bei den Ruderern schaute er sich ab, wie gleichmäßig die Skulls durch Wasser glitten. „So muss mein ganzes Boot laufen“, dachte sich Eschert, feilte an seiner Technik und anvancierte zu einem Ästheten im Boot. Schließlich verhalf ihm in Tokio eine Renntaktik zum Sieg, die er sich ein Jahr zuvor angeeignet hatte. „Bis dahin bin ich immer losgefahren, was das Zeug hielt, und wurde kurz vor der Ziellinie abgefangen“, sagt Eschert. Bis ihn ein ein russischer Kanute zur Seite nahm und ihm riet, sich die Rennen besser einzuteilen. Von da an schob Eschert das Feld bis zur Hälfte des Rennens vor sich her, legte bei 500 Meter einen Zwischenspurt ein, schloss auf und zog 250 Meter vor dem Ziel noch einmal an. „Ich habe das im Training und in Wettkämpfen ständig probiert, sodass ich in Tokio überzeugt war, alles im Griff zu haben.“ Erst als das Rennen vorbei war und er auf dem Siegerpodest stand, habe er wahrgenommen, was passiert war. Statt der Nationalhymne wurde „Freude schöner Götterfunken“ gespielt – 1964 hatte die letzte gesamtdeutsche Mannschaft ihren olympischen Auftritt, in der Jürgen Eschert der einzige Kanute aus der DDR war. „Ich kann verstehen, wenn Sportler bei der Siegerehrung weinen“, sagt Eschert. Auch er habe mit den Tränen gekämpft . „Die Kameras der ganzen Welt waren auf mich gerichtet“, begründet er, weshalb er nicht weinen wollte.

Weitere olympische Medaillenträume blieben für Eschert unerfüllt. Vier Jahre später wurde er sechs Wochen vor den Spielen in Mexiko aus dem Olympiateam ausgeschlossen, 1971 verbannte ihn die DDR-Obrigkeit gänzlich aus dem Sportsystem. Eschert war unbequem, weil er seine Freundschaften zu westlichen Athleten pflegte und auch zur Schau trug – so einen Trainingspullover mit der Flagge der USA. Erst nach dem Mauerfall half er mit, die erfolgreiche Tradition des Kanurennsports am Leben zu halten und den Kanuclub Potsdam als Hochburg dieses Sports zu etablieren. Seine sportlichen Enkel paddeln in dieser Woche in Moskau bei den Weltmeisterschaften. Peter Könnicke

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